1090 - Für immer und ewig
rühren. Sie genossen den Kontakt, den sie so lange hatten entbehren müssen, und sie blieben auch nicht starr dabei, sondern bewegten sich vor und zurück.
Totenliebe…
Zu lange hatten beide auf diesen Moment warten müssen, als ihn jetzt zu kurz zu gestalten. Für beide war es das Hochgefühl, sich wiedergefunden zu haben.
Schließlich drückte sich Elisa zurück und schaute ihren Ehemann aus kurzer Distanz ins Gesicht.
»Wir leben.«
»Ja, das tun wir.«
»Beide haben wir den Tod überlistet.«
In Henrys Gesicht zuckte es. Ebenso wie in den Augenhöhlen, in denen eine Masse lag, die wie hellgrauer Schleim aussah. »Von nun an sind wir für immer zusammen. Wir werden herrschen, und wir werden uns nehmen, was wir brauchen.«
»Menschen?«
»Auch.«
Die Augen der Frau waren ebenso grau wie die des Mannes. »Ich habe Hunger…«
»Das glaube ich.«
»Du auch?«
»Ja.«
Elisa bewegte schnüffelnd ihre Nase. »Ich… ich… rieche etwas. Es gibt hier etwas Lebendiges.«
»Aber keine Menschen, wir sind allein. Da sind nur die Toten in den anderen Särgen.«
»Die will ich nicht.« Sie befreite sich aus seinem Griff und ging die ersten Schritte allein.
Das Hochzeitskleid und ihr Aussehen paßten nicht zusammen. So wirkte Elisa wie eine makabre Aufziehpuppe, als sie durch die Gruft ging und das Gehen übte. Sie hielt die Arme ausgestreckt. Es war besser für das Finden des Gleichgewichts. Einen der Särge übersah sie, stolperte und prallte auf ihn.
Sir Henry war zurückgeblieben. Er beobachtete seine Gattin, die sich nicht die Mühe machte, den Oberkörper wieder aufzurichten. Quer über dem Sargdeckel blieb sie liegen. Die Arme hatte sie auch darüber hinweg gestreckt, und beide Hände scheuerten dabei über den schmutzigen Boden hinweg.
Ein schrilles Geräusch war zu hören.
Der kleine Schatten, der kaum zu sehen war, doch in die Nähe der Untoten lief.
Elisa packte zu.
Dabei schrie sie auf und drückte ihre rechte Hand noch mehr zur Faust zusammen.
Sir Henry ging besorgt auf seine Frau zu. Er wollte sich über sie beugen, aber sie kam bereits hoch und präsentierte ihm die Beute. Aus der kleinen Faust schaute unten der zappelnde Schwanz einer kleinen Maus hervor. Der Kopf war nicht zu sehen. Er mußte von den Fingern zerquetscht worden sein.
Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Ich habe Hunger!«
»Dann nimm sie!«
»Ja?«
»Sofort!«
Die Faust ruckte auf den kleinen Mund zu, den die Zombiefrau so weit wie möglich aufriß.
Mit einer ruckartigen Bewegung stopfte sie das Tier tief in die Öffnung hinein und schloß sie wieder. Die Wangen wirkten jetzt wie von innen aufgeblasen. Für einen Moment sah das Gesicht so aus wie das eines kleinen Engels.
Dann veränderte es sich, denn sie begann zu kauen, und Sir Henry achtete auf die knackenden Geräusche, die dabei entstanden. Sie zerkaute die kleine Maus in kleine Teile, um sie anschließend einfach zu schlucken. An ihrem Hals bewegte sich die Haut. Dort malte sich der Weg des kleinen Tiers genau ab.
Sir Henry wartete, bis die Beute im Magen seiner Frau verschwunden war. Dann fragte er: »Hat es dir gutgetan?«
»Sehr.«
»Du wirst bald andere Beute bekommen.«
Sie lachte kichernd auf. »Das hoffe ich doch. Ja, das hoffe ich sehr. Andere Beute. Wo?«
»Hier.«
»Sie kommen - oder?«
»Ja, sie wollen sehen, was passiert ist. Sie alle können es nicht glauben, aber sie sind scharf darauf, etwas zu sehen, was es eigentlich nicht geben kann.«
»Für uns gibt es jetzt alles, Geliebter.«
Er umarmte sie. »Ja, alles…«
Beide standen für einen Moment beisammen. Sie schlossen die Augen und wirkten tatsächlich wie ein normales Paar.
»Ich hasse diese Gruft«, sagte Elisa. »Ich habe sie schon immer gehaßt.«
»Ich auch.«
»Dann wollen wir sie verlassen.«
»Schon jetzt?«
»Ja, warum nicht?«
»Ich dachte, du wolltest bis zur Dunkelheit warten.«
»Nein, Henry, nein. Ich will raus. Ich habe zu lange in der Totenkiste gelegen und gedarbt. Jetzt will ich frei sein.«
»Das bist du auch. Gib mir deinen Arm!«
»Ah - ich liebe dich!« flüsterte die Untote.
»Komm.«
Elisa nahm seinen Arm. Beide blieben noch stehen. Sehr steif und förmlich. Tatsächlich wie ein Paar, das kurz davor stand, zum Traualtar zu gehen.
Ihr Weg führte woanders hin. Sie schritten über den grauen Boden auf eine Tür zu, die sich nur schwach abmalte. Ihr Holz war im Laufe der Zeit nachgedunkelt und hatte die Farbe der Steine angenommen. Es roch
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