1091 - Das Geschöpf
denn?«
»Sehr schnell, glaube ich. Er will noch einen Menschen. Erst dann ist er fertig.«
»Das könnte also noch in dieser Nacht passieren?«
»Ich weiß es nicht genau. Die letzte Kraft fehlt ihm.«
»Wenn du das alles weißt, Manuel, dann hast du auch mit ihm richtig gesprochen?«
Der Junge schaute mich an, als hätte ich ihm etwas Schlimmes gesagt. »Nein, ich konnte mit ihm nicht richtig sprechen. Schatten können nicht reden. Er hat mich im Schlaf besucht. Immer wenn ich so kalt wurde, ist er gekommen und hat mir alles erklärt. Da hatte ich immer Angst.«
Das glaubte ich ihm aufs Wort und strich über sein Haar. »Von nun an brauchst du keine Angst mehr zu haben, Manuel, denn ich werde bei dir bleiben.«
»Bist du sein Feind?«
»Und ob. Ich werde mich schon zu wehren wissen und ihn dann zurückschlagen. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Aber er ist kein Mensch.«
»Das weiß ich, Manuel. Nur habe ich ihn nicht ausschließlich als Schatten gesehen. Er kann sich verwandeln. Zwar nicht in einen Menschen, aber in ein Monstrum. Er verwandelt sich in das, was er einmal gewesen ist. Allerdings weiß ich nicht, woher er gekommen ist und wo er früher einmal existiert hat.«
»Das weiß ich auch nicht.«
Ich lächelte ihm zu. »Dann werden wir hier auf ihn warten. Wenn du im Bett bleiben möchtest, kannst du es tun. Ich bin im Nebenzimmer bei deiner Mutter.«
»Ja, du kannst ruhig gehen.«
Etwas langsam erhob ich mich und dachte über die Worte des Jungen nach. Wenn all das stimmte, was er mir erzählt hatte, dann würde der Schatten wieder zuschlagen. Er hatte noch nicht genug, um so zu werden, wie er es sich vorgestellt hatte. Da brauchte er die Kraft eines weiteren Menschen, um seine Eiseskälte an ihn abzugeben.
Über die Herkunft konnte ich nur spekulieren. Es war durchaus möglich, daß die Seele des Dämons zwischen dem Jenseits und dem Diesseits hin- und herpendelte, aber es konnte auch sein, daß er die Welt des Spuks verlassen hatte, was nicht jedem gelang.
Gloria Esteban saß in ihrem Zimmer und starrte ins Leere. Als sie mich sah, hob sie den Kopf. Ich schaute in ihre Augen und sah ihr Schulterzucken. »Das begreife ich alles nicht, Mr. Sinclair. Das ist mir viel zu hoch.«
»Sie brauchen keine Sorgen zu haben. Dieser Schatten wird Ihren Sohn nicht bekommen.«
»Das sagen Sie, Mr. Sinclair. Denken Sie doch daran, wie schnell er gewesen ist. Auch Sie haben ihn nicht stoppen können. Selbst dann nicht, als er kein Schatten war. Da hat er sich so schnell in einen verwandelt, und Sie hatten das Nachsehen.«
»Es wird Ihnen nicht viel helfen, Mrs. Esteban, aber ich sage Ihnen, daß man sich immer zweimal im Leben trifft. Das wird auch bei dem Schatten und mir der Fall sein. Beim nächstenmal bin ich vorbereitet.«
»Sie wissen nicht, wann er erscheinen wird. Das kann lange dauern.«
»Noch in dieser Nacht. Ihr Sohn hat mir viel über ihn erzählen können.« Ich sah ihr an, daß sie auf einer nähere Erklärung wartete, die jedoch ersparte ich ihr. Es hätte jetzt keinen Sinn gehabt. Sie hätte sich zu sehr aufgeregt.
»Wollen Sie dann bei uns bleiben?« fragte sie.
»Das hatte ich vor. Ich habe mir schon manche Nächte um die Ohren geschlagen.«
»Sie müssen es wissen, Mr. Sinclair«, sagte sie leise. »Ich jedenfalls habe Angst.«
Ich setzte mich hin. Der Sessel stand günstig. So konnte ich durch die offene Tür in Manuels Zimmer schauen.
Der Junge saß in seinem Bett. Ich ließ ihn bewußt in Ruhe. Eine Störung konnte er nicht vertragen.
Dieses Geschöpf mußte einfach die Chance haben, mit ihm Kontakt aufnehmen zu können.
Meine Gedanken glitten wieder hin zu Suko. Er befand sich in der Kneipe. Bisher hatte das Geschöpf sich seine Opfer aus den Seeleuten ausgesucht. Da waren sie wohl hier im Heim gewesen und eine sichere Beute. Es stellte sich die Frage, ob sich der Schatten auch in die Kneipe traute und dort herumwirbelte oder erst den Weg über den Jungen nahm.
Ich hoffte stark, ihn hier zu erleben, um ihm noch einmal gegenüberzustehen.
»Kann ich was tun?« fragte Gloria.
»Nein, bleiben Sie hier.«
»Und was ist mit Phil?«
»Er wird bereits in ärztlicher Behandlung sein. Die Verletzungen sahen schlimmer aus als sie es in Wirklichkeit waren. Der Tod hat ihn nur gestreift.«
»Ja, dank Ihrer Hilfe, Mr. Sinclair.«
»Ach, vergessen Sie das.«
Mein Blick war wieder in das Nebenzimmer gefallen. Dort saß Manuel nach wie vor auf seinem Bett, aber seine Haltung
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