Im Licht der Sonne: Roman (German Edition)
Prolog
Three Sisters Island
September 1699
Sie rief das Unwetter herbei.
Den Sturmwind, die grellen Blitze, das Toben des Meeres, das sowohl Kerker als auch Schutz war. Sie rief ihre inneren Kräfte an und jene anderen, die außerhalb ihres Ichs existierten. Die Mächte des Guten und die Mächte der Finsternis.
Schlank und hoch gewachsen, ihr Umhang wie Vogelschwingen hinter ihr flatternd, stand sie allein an dem sturmumtosten Strand. Allein mit ihrem Zorn und ihrem Schmerz. Und ihrer Macht. Es war diese Macht, die sie jetzt erfüllte, die in wilden, heftigen Stößen in sie eindrang wie ein wahnsinnig gewordener Liebhaber.
Und vielleicht war es ja Wahnsinn.
Sie hatte Ehemann und Kinder verlassen, um an diesen Ort zu kommen, hatte sie für eine Weile in einen Zauberschlaf versetzt, der sie behüten und in gnädiger Ahnungslosigkeit lassen würde. Und wenn sie erst einmal getan hatte, was zu tun sie hergekommen war, würde sie nie wieder zu ihnen zurückkehren können. Sie würde nie wieder ihre innig geliebten Gesichter in den Händen halten dürfen.
Ihr Ehemann würde um sie trauern, ihre Kinder würden sie schmerzlich vermissen. Aber sie konnte nicht mehr zu ihnen zurückkehren. Und sie konnte und würde nicht von dem Weg abweichen, den sie gewählt hatte.
Die Schuld musste gesühnt werden. Und am Ende würde der Gerechtigkeit, wie hart und schonungslos sie auch sein mochte, Genüge getan sein.
Sie stand hoch aufgerichtet da, die Arme dem brausenden Sturm entgegengestreckt, den sie heraufbeschworen hatte. Ihr Haar flatterte wild und ungebändigt um ihren Kopf, lange dunkle Bänder, die wie Peitschenschnüre nach der Nacht schlugen.
»Das darfst du nicht!«
Eine Frau erschien neben ihr, eine Gestalt, die so hell in dem Unwetter zu leuchten schien wie das Feuer, nach dem sie benannt worden war. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen von einem Ausdruck verdunkelt, den man als Furcht hätte deuten können.
»Es hat bereits angefangen.«
»Mach der Sache ein Ende, sofort. Mach ihr ein Ende, Schwester, bevor es zu spät ist. Du hast kein Recht, so etwas zu tun.«
»Kein Recht?« Sie, die Erde hieß, wirbelte herum, ihre Augen blitzten. »Wer hat ein größeres Recht dazu als ich? Als sie die Unschuldigen in Salem ermordeten, verfolgten und jagten und henkten, haben wir nichts getan, um der Sache ein Ende zu machen.«
»Wenn man der einen Flut Einhalt gebietet, löst man unweigerlich eine andere aus. Das weißt du. Wir haben diesen Ort schließlich erschaffen.« Feuer breitete die Arme aus, als wollte sie die Insel umfangen, die unter dem Ansturm der entfesselten Naturgewalten erzitterte. »Für unsere Sicherheit und unser Überleben, für unsere Zunft.«
»Sicherheit? Wie kannst du jetzt von Sicherheit, von Überleben sprechen? Unsere Schwester ist tot. «
»Und ich trauere genauso tief um sie wie du.« Feuer kreuzte in einer bittenden Geste die Hände zwischen ihren Brüsten. »Mein Herz vergießt Tränen, so wie auch dein Herz
Tränen vergießt. Ihre Kinder sind jetzt in unserer Obhut. Willst du sie ebenso im Stich lassen wie deine eigenen?«
Sie war von Wahnsinn erfasst; er riss an ihrem Herzen, so wie der Sturm an ihrem Haar riss. Und dennoch – obwohl sie die Macht, die sie trieb, als Wahnsinn erkannte, konnte sie sie nicht bezwingen. »Er darf nicht ungestraft davonkommen. Er darf nicht leben, wenn sie nicht mehr lebt.«
»Wenn du Schaden anrichtest, wirst du deine Gelübde gebrochen haben. Du wirst deine Macht korrumpiert und missbraucht haben, und was du in die Nacht hinausschickst, wird wieder zu dir zurückkommen, dreifach.«
»Gerechtigkeit hat ihren Preis.«
»Nicht diesen Preis. Niemals diesen Preis. Dein Ehemann wird seine Frau verlieren, deine Kinder ihre Mutter. Und ich werde noch eine geliebte Schwester verlieren. Und mehr noch – du brichst dein Wort und versündigst dich an dem, was wir sind. Unsere Schwester würde das hier nicht gewollt haben. Dies wäre nicht ihre Antwort gewesen.«
»Sie ist lieber gestorben, statt sich zu schützen. Gestorben für das, was sie ist – für das, was wir sind. Unsere Schwester hat der Macht entsagt, hat ihr abgeschworen für etwas, was sie Liebe nannte. Und es hat sie getötet.«
»Es war ihre Wahl.« Eine, die noch lange, nachdem man sie heruntergeschluckt hatte, einen bitteren Geschmack auf der Zunge hinterließ. »Und trotzdem hat sie niemandem Schaden zugefügt. Wenn du das hier tust, wenn du deine besondere Gabe auf diese böse Art
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