1091 - Das Geschöpf
jemand, der sofort kommt?«
»Ja, einer aus dem Hafen-Hospital. Wir sind befreundet.«
Ich hielt bereits mein Handy in der Hand. »Sagen Sie mir die Nummer.« Nachdem ich gewählt hatte, übergab ich Hancock den Apparat. Er sprach mit seinem Freund, erklärte ihm die Verletzungen und war erleichtert, weil der Mann zu ihm kommen würde und er nicht ins Krankenhaus mußte.
»Er kommt in mein Büro, Mr. Sinclair. Ich will hier nicht mehr länger bleiben. Das verstehen Sie doch - oder?«
»Das ist mir alles klar. Ich möchte Sie nur hinbringen.«
»Wollen Sie mich allein lassen?« beschwerte sich die Köchin.
»Nein, nur kurz.«
Ich half dem Heimleiter beim Aufstehen. Aus dem Nebenzimmer war nichts zu hören. Als Gloria meinen Blick sah, den ich zur Tür warf, erinnerte sie sich wieder an ihren Sohn, rief seinen Namen und wollte wissen, was mit ihm war.
»Er ist in Ordnung.«
»Darf ich zu ihm?«
»Sicher.«
Auf dem Flur mußte ich Hancock stützen. Er flüsterte vor sich hin und sprach immer wieder davon, wie er überrascht worden war. Eine Erklärung für dieses Phänomen konnte er nicht geben, das war auch nicht nötig, denn Hintergründe herauszufinden, war einzig und allein meine Sache.
Warum war das Geschöpf geflohen? Lag es an der Nähe meines Kreuzes? War es deshalb so schnell verschwunden? Es konnte möglich sein, mußte aber nicht. Mir war zudem unklar, woher es überhaupt kam. Aus einer Schattenwelt?
Da fiel mir der Spuk ein, Herrscher in der Welt des Schattens. Sein Reich bestand aus der absoluten Dunkelheit. Er sammelte die Seelen der vernichteten Dämonen, sofern sie eine hatten. Wahrscheinlich war es nur das in der Realität vernichtete Böse, das sich dann in dieser absolut lichtlosen Welt wiederfand.
Das war der eine Weg, aber es gab in diesem Fall auch einen Weg zurück. Und ließ der Spuk das zu, daß jemand auf eine gewisse Art und Weise wiedergeboren wurde?
Das konnte ich mir nicht vorstellen. Wer seinem Reich einmal eingegliedert worden war, der blieb es auch.
Davon hatte Phil Hancock kein Ahnung, als er mit schlurfenden Schritten neben mir herging und immer wieder das Gesicht verzog. Er hielt den Arm steif, und manchmal hörte ich ihn stöhnen.
Es begegnete uns niemand, was schon selten war. Das Heim schien ausgestorben zu sein. Ein geisterhaftes Haus, in dem sich nur die Seelen aufhielten.
Ich wunderte mich darüber, und Phil Hancock gab mir eine Erklärung. »Sie haben alle Angst, Mr. Sinclair. Eine schreckliche Angst. Es hat sich herumgesprochen, daß ein vierter Toter aus dem Wasser gezogen worden ist. Jetzt überlegen sie, wer als nächster an der Reihe sein könnte, und sie fühlen sich nicht mehr sicher.«
»Wo sind sie hin?«
»Alle bei Rosa.«
»Wer ist das?«
»Die Wirtin der nahen Kneipe.«
Nach dieser Antwort fiel mir wieder Suko ein, der dorthin gegangen war. Möglicherweise war es nicht so verkehrt gewesen. Er würde sich dort umhören, und das war nicht schlecht. Auf der anderen Seite fehlte er mir hier. Mit seiner Dämonenpeitsche hätte er das Geschöpf vielleicht locken oder attackieren können.
Ich betrat Hancocks Büro als erster. Das Licht brannte noch. Ich schaute mich um und schaltete auch die Deckenleuchte ein, damit es heller wurde.
Etwas Verdächtiges war nicht zu sehen. Normale Wände, ohne Bewegungen. Erst jetzt fiel mir auf, daß über der Tür ein kleines Holzkreuz hing. Ob es als Schutz ausgereicht hätte, konnte ich mir kaum vorstellen.
Ich brachte Phil Hancock an seinen Platz hinter dem Schreibtisch. »Sie brauchen nicht zu bleiben, Mr. Sinclair. Ich kenne meinen Freund. Der ist gleich hier. Für Notfälle steht er immer bereit. Ich bin nur froh, daß er in der Klinik gewesen ist.«
»Okay, ich gehe dann.«
»He, bitte!«
An der Tür hatte mich sein Ruf aufgehalten, und ich drehte mich um.
»Danke!« flüsterte Hancock. »Wenn Sie nicht gekommen wären, dann hätte mich das Monstrum getötet.«
Ich winkte ab. »Machen Sie sich keine Sorgen, auch wenn dies leicht gesagt ist. Aber ich verspreche Ihnen, daß wir es kriegen. Bestimmt sogar.«
»Wie?«
»Es ist nicht unbesiegbar«, antwortete ich orakelhaft. Danach verließ ich das Büro.
Wohl war mir dabei nicht. Ich wäre noch gern bei ihm geblieben, doch auf der anderen Seite mußte ich wieder zurück ins Zentrum gehen. Es gab eine Verbindung zwischen dem Jungen und dem Monster. Wie sie zustande gekommen war und wie sie auch hielt, war mir leider unbekannt. Aber der Junge mußte
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