1092 - Der Vampirengel
schußbereit, wobei die Mündung über den Körper der liegenden Dagmar hinwegwies.
Nichts zu sehen.
Angela war raffiniert. Sie wußte, wie stark Harry war, und das war sein Vorteil. »Okay!« rief er in das Dunkel hinein, »du brauchst dich nicht zu zeigen. Die Zeit arbeitet für mich. Ich werde auch den Rest der Nacht hier sitzenbleiben, darauf kannst du dich verlassen. Wenn die Sonne aufgeht und es hell wird, dann wirst du das Licht nicht ertragen können, im Gegensatz zu mir.«
»Gut, du willst es nicht anders. Ich habe dich gewarnt. Dann werden andere Maßnahmen ergriffen. Ich will dir nur sagen, daß Dagmar Hansen von jetzt an mir gehört!«
»Keinen Tropfen Blut wirst du von ihr bekommen!«
Harry hatte seinen Zorn nicht unterdrücken können, doch das Lachen der Person machte ihn noch wütender.
Die Stille, die ihn in der folgenden Zeit umgab, machte ihn noch nervöser. Der Vampirengel hatte etwas angekündigt, und er wartete darauf. Das Warten stellte seine Nerven auf eine verflucht harte Probe. Manchmal schienen kalte Spinnenfinger seinen Rücken hinabzurieseln, dann wiederum spürte er einen regelrechten Hitzestoß, als wollten ihn die Flammen der Hölle verzehren.
Angela gab keine Antwort.
Er hörte auch nichts - oder?
Das Geräusch schreckte ihn auf. Harry blieb nicht mehr hocken. So vorsichtig wie möglich stemmte er sich hoch und blieb auf der Stelle stehen. Nur den Kopf drehte er, damit er in die verschiedenen Richtungen schauen konnte.
Da standen die Bäume wie schweigende Beine eines Riesen. Er sah das Gestrüpp und auch die Grabsteine, die ihm plötzlich heller vorkamen als sonst. Grau und zugleich leicht silbrig angestrichen, genau wie der, der gekippt in der Erde stand.
Warum schimmerten sie so?
War doch Licht da?
Nein, er sah keinen hellen Schein, der sich die Grabreihen entlang und über die Wege hinwegtastete.
Dafür hörte er etwas, und dieses noch leise Geräusch schreckte ihn auf.
Schritte…!
Ja, das mußte so sein. Nicht nur die Schritte einer Person, die sich aus einer bestimmten Richtung näherte. Nein, das waren mehrere Menschen, die da auf ihn zukamen.
Er drehte sich leicht im Kreis, ohne irgendeinen Ankömmling zu entdecken. Aber die Schritte klangen dumpf und zugleich unregelmäßig. Da konnten die noch nicht verwesten Leichen aus den Gräbern gestiegen sein, um als lebende Tote einen Kreis um ihn zu bilden. Er war ein Mensch, die anderen nicht mehr. Nur schlimme Gestalten, die es eigentlich nicht geben dürfte, die jedoch nach frischem Menschenfleisch gierten und ihn zerreißen würden.
Schreckliche Vorstellungen jagten durch seinen Kopf. Er schwitzte, er spürte wie sein Herz immer schneller klopfte und die rechte Hand, in der er noch immer die Waffe hielt, schwerer wurde und einfach nach unten sackte.
Dann sah er sie!
In den folgenden Sekunden wurde die Vorstellung zur grausamen Wahrheit. Sie erschienen von allen Seiten und tauchten aus dem Dunkel zwischen den Grabsteinen auf wie Unholde, die ihre Gräber verlassen hatten. Aus dem Höllenbuch entsprungene Gestalten, Zombies, lebende Leichen, umweht vom nächtlichen Dunst, der in dünnen Schwaden über den Friedhof kroch. Blasse Gesichter, die sich bei den unregelmäßig gesetzten Schritten bewegten und in der Luft zu tanzen schienen. Sie gaben sich nicht einmal Mühe, leise zu sein und etwas zu verbergen. Sie wußten, daß sie die Herrscher waren und ihnen kaum jemand etwas anhaben konnte.
Harry hatte zuerst noch versucht, sie zu zählen. Waren es fünf, sechs oder sieben?
So genau bekam er es nicht in die Reihe. Er fühlte sich wie ein kleines Kind, das noch dabei war, das Rechnen zu lernen. Dabei war er ein erwachsener Mann und älter als vierzig Jahre, der sich an seiner Waffe festhielt wie ein Schiffbrüchiger an einer auf den Wellen dahintreibenden Planke.
Er hörte sich atmen. Er versuchte, seine Gedanken zuordnen. Okay, die Waffe befand sich in seinem Besitz. Er würde zwei, drei erwischen können und möglicherweise bekamen die anderen dann genügend Furcht, um sich zu verkriechen oder wieder zurückzulaufen. Immer vorausgesetzt, daß es Menschen waren.
Darauf wollte Harry sich nicht festlegen. Es konnte durchaus sein, daß sich die Gräber hier geöffnet hatten, um die Leichen zu entlassen. Ein unseliger Fluch war über sie gekommen, der jetzt noch brutaler zuschlug.
Harry schaffte es nicht ganz, die Angst in seiner Stimme zu unterdrücken. Dabei dachte er nicht allein nur an sich. Es ging ihm
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