1095 - Der Hexentrank
Die schlanke Frau ging auf das Panoramafenster ihres Hauses zu.
Die gesamte Seite bestand aus Glas und erlaubte einen herrlichen Blick bis hin zu einem Lichtermeer, das zu London gehörte. Besonders bei klarem Wetter wirkte dieses Panorama immer noch wie ein kleines Wunder auf sie, und sie konnte sich einfach nicht daran satt sehen.
Auch jetzt blieb sie vor der Scheibe stehen. In der rechten Hand hielt sie noch die Bürste fest, mit der sie eigentlich ihr Haar hatte bürsten wollen.
Das ließ sie bleiben, weil der Anblick sie wieder einmal zu sehr in den Bann zog.
Hier stand ihr Haus, vor ihr lag diese dunkle Weite, nur ab und zu durch Lichter unterbrochen. Danach jedoch schien die Kulisse der Stadt sich wie ein wahr gewordenes Märchen aus der Tiefe zu erheben, um sich dem Betrachter strahlend zu präsentieren. Es war das perfekte Wohnen, und Chris genoß es im Grunde auch; durch das geerbte Geld ihrer Tante hatte sie sich den Traum von einem Haus erfüllen können. Aber es gab auch Schattenseiten, denn ein Erlebnis lag gerade mal eine Woche zurück.
Da hatte sie plötzlich einen Blackout auf der Fahrt hierher gehabt und während dieses Lochs auch einen kleinen Drachen gesehen, den sie später dann in ihrem Haus gefunden hatte.
Hätte sie nicht einen Mann namens John Sinclair kennengelernt, der ihr sehr geholfen hatte, wäre es ihr jetzt wohl nicht mehr möglich gewesen, die Skyline zu sehen. Dann wäre sie tot gewesen und hätte längst in einem tiefen Grab gelegen. Eingeschlossen in einem Sarg, umgeben von kalter Erde, durch die sich Würmer ihren Weg bahnten. [1] Aber sie lebte. Der Drache war durch John Sinclair besiegt worden, auch wenn er sich zu einem wahren Monstrum entwickelt hatte. Eigentlich hätte sich die junge Frau freuen müssen. Das hatte sie sich auch fest vorgenommen, nur war es dazu nicht mehr gekommen. Sie empfand keine Freude, selbst jetzt nicht, wo sich ihr dieses einmalige Panorama bot.
Ihr Gefühl hatte mehr mit einer tiefen Furcht zu tun.
Auch jetzt noch oder gerade jetzt, als sie am Fenster stand und den Eindruck hatte, als wäre plötzlich eine Wand da, die sich aus der Erde geschoben und sich dann zwischen das Haus und die Londoner Lichterkette gestellt hatte.
Nichts von dem stimmte. Ihr Blick war frei wie immer in den klaren Nächten. Trotzdem konnte sie sich dieses Gefühls nicht erwehren. Sie spürte es nicht zum erstenmal nach dem schrecklichen Erlebnis. An den letzten Abenden war es immer wieder in ihr hochgekommen, und auch in den Nächten.
So manches Mal war sie zu verschiedenen Zeiten erwacht, hatte dann schweißnaß im Bett gesessen, ihrem Herzschlag gelauscht und sich vorgestellt, daß es irgendwelche Einbrecher geschafft hatten, ins Haus einzudringen.
Nein, da war niemals etwas gewesen. Keine Einbrecher und auch keine Drachen oder andere Monster.
Die Außenseite des Glases in ihrer rechten Hand war feucht geworden. Sie führte es an den Mund und trank es leer. Dann stellte sie es ab und wandte sich wieder dem Fenster zu. Es war für sie wie ein Zwang, hinausschauen zu müssen, aber sie war auch jetzt nicht in der Verfassung, das schöne Bild zu genießen. Die anderen Gefühle überwogen, und wie immer an den Abenden kam ihr Tante Edina in den Sinn, die ihr ein Erbe hinterlassen hatte.
Es bestand nicht nur aus Geld, sondern auch aus einer Menge alter Bücher, deren Seiten mit Geschichtenüber alte Mythen, Zauberformeln und unheimlichen Begegnungen zwischen Menschen und Monstren gefüllt waren.
In einem der Bücher hatte John Sinclair auch die Lösung des letzten Falls entdeckt. Nachdem Chris alles überstanden hatte, da hatte sie auch das Buch aus dem Haus geschafft und es verbrannt.
Die anderen befanden sich noch unten in der Bibliothek, die sie seit Tagen nicht mehr betreten hatte, weil sie sich einfach davor fürchtete, so lächerlich es auch klingen mochte, denn Bücher taten ihr wirklich nichts.
Aber sie hatte einen Fehler begangen.
Daran dachte sie auch immer wieder. Sie hätte – laut Testament ihrer Tante – das Haus zuvor von einem Druiden segnen oder weihen lassen sollen. Darauf hatte sie verzichtet, und deshalb war dieser Drachenfluch über sie gekommen.
Auch jetzt hatte sie nichts daran geändert. Keine Segnung durch einen Druiden. Das Haus war so geblieben wie es war. Außerdem wußte sie nicht, wie sie Kontakt mit einer derartigen Person aufnehmen sollte. Druiden kannte sie wohl, allerdings mehr aus dem Asterix-Comic. Zudem hatte sie mal in
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