11 - Nie sollst Du vergessen
Schwester?
Ihr Großvater, erklären Sie mir, hat in Ihrem Leben eine weit größere Bedeutung als Ihre Schwester. Er spielt in der Geschichte Ihrer musikalischen Entwicklung eine der Hauptrollen, selbst wenn ein Teil dieser Geschichte Erfindung ist. Um die Erinnerung an ihn zu verdrängen, wie Sie sie offenbar an Sonia verdrängt haben ...
Verdrängt? Wieso verdrängt? Meinen Sie auch, dass ich mich an meine Schwester nicht erinnern wollte, Dr. Rose?
Verdrängung ist ein unbewusster Vorgang, erklären Sie mir. Ihre Stimme ist leise, Ihr Ton ruhig und einfühlsam. Sie geschieht bei Ereignissen psychischer oder physischer Natur, die so überwältigend sind, dass wir sie nicht verarbeiten können, Gideon. Wenn wir als Kinder etwas erleben, das heftige Angst auslöst oder das wir nicht verstehen können - Geschlechtsverkehr zwischen den Eltern ist ein gutes Beispiel -, stoßen wir es aus unserem Bewusstsein aus, weil wir in diesem Alter nicht über das Instrumentarium verfügen, um uns mit dem Erlebten auseinander zu setzen und es so zu verarbeiten, dass wir es integrieren können. Auch bei Erwachsenen kommt das vor, beispielsweise bei Menschen, die einen schweren Unfall erleiden. Sie können sich hinterher nicht an das Ereignis erinnern, weil es so furchtbar war. Wir fassen nicht bewusst den Entschluss, etwas aus unserem Bewusstsein zu verdrängen, Gideon, wir tun es einfach. Mithilfe der Verdrängung schützen wir uns vor etwas, mit dem wir uns noch nicht auseinander setzen können.
Und was ist an meiner Schwester so schrecklich, dass ich ihm nicht ins Auge sehen kann, Dr. Rose? Denn erinnert habe ich mich ja an sie. Als ich über meine Mutter schrieb, kehrte die Erinnerung an Sonia zurück. Nur ein Detail habe ich ausgeblendet. Bis zu dem Moment, als ich das Foto sah, wusste ich nicht, dass sie am Downsyndrom litt.
Folglich spielt wohl ihre Krankheit eine wichtige Rolle in dieser ganzen unglückseligen Situation? Denn daran habe ich mich nicht von selbst erinnert. Ich musste mit der Nase darauf gestoßen werden.
Sie haben sich auch an Katja Wolff nicht von selbst erinnert, sagen Sie.
Also sind die Krankheit meiner Schwester und Katja Wolff miteinander verknüpft, richtig, Dr. Rose? Ja, so muss es sein.
5. Oktober
Nachdem ich das Foto meiner Schwester gesehen und Libby ausgesprochen hatte, was ich selbst nicht über die Lippen brachte, hielt ich es im Archiv nicht mehr aus. Ich wollte bleiben, denn ich hatte ja fünf Umschläge vor mir, die voll waren mit Informationen zu den Ereignissen, von denen meine Familie vor zwanzig Jahren überrollt worden war. Zweifellos hätte ich in diesen Umschlägen auch die Namen sämtlicher Personen gefunden, die an den polizeilichen Ermittlungen oder dem nachfolgenden Gerichtsverfahren beteiligt waren. Aber ich war nicht fähig weiterzulesen, nachdem ich dieses Foto von Sonia gesehen hatte, das es mir ermöglichte, mir meine kleine Schwester unter Wasser vorzustellen: wie der runde Kopf sich unablässig hin und her bewegt und wie sie mit diesen bemerkenswerten Augen, die selbst auf einem Zeitungsfoto erkennen lassen, dass sie kein normales Kind war, schaut und schaut und nicht aufhören kann, den Menschen anzustarren, der sie töten will. Ein Mensch, dem sie vertraut, den sie liebt und den sie braucht, drückt sie unter Wasser, und sie kann das nicht verstehen. Sie ist erst zwei Jahre alt, und selbst wenn sie ein normales Kind gewesen wäre, hätte sie nicht verstanden, was ihr geschah. Aber sie ist nicht normal. Sie ist nicht als normales Kind zur Welt gekommen. Nichts in den zwei kurzen Jahren ihres Lebens ist je normal gewesen.
Krankheit, die zur Krise führt. Genauso ist es, Dr. Rose. Mit meiner Schwester stürzen wir von einer Krise in die andere. Mutter weint morgens bei der Messe, und Schwester Cecilia weiß, dass sie Hilfe braucht. Sie braucht nicht nur seelischen Beistand, der ihr hilft, damit fertig zu werden, dass sie ein Kind zur Welt gebracht hat, das anders ist, nicht vollkommen, ungewöhnlich oder wie immer Sie es nennen wollen, sie braucht auch praktische Hilfe bei der Betreuung dieses Kindes. Denn das Leben muss weitergehen, auch wenn es ein Wunderkind zu fördern und ein krankes Kind zu betreuen gilt: Großmutter muss sich wie immer um Großvater kümmern, mein Vater muss seinen zwei Jobs nachgehen, und wenn ich weiterhin Geige spielen will, muss auch meine Mutter arbeiten.
Das Naheliegendste unter diesen Umständen wäre es, meine musikalische Ausbildung
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