11 - Nie sollst Du vergessen
noch abspülen, Wäsche waschen und Staub saugen, wenn man sie entsprechend programmierte. Mein Vater, der anfangs nur spöttische Geringschätzung für dieses Wunderwerk der Technik übrig gehabt hatte, bediente sie wie ein Profi.
Er holte zwei Espressotassen aus dem Schrank und nahm eine Zitrone aus der Obstschale. Während er nach dem richtigen Messer suchte, um ein Stück Schale abzuschneiden, begann ich zu sprechen.
»Dad«, sagte ich, »ich habe ein Foto von Sonia gesehen. Besser als das, das du mir gezeigt hast. Ein Zeitungsfoto, das damals zur Zeit des Prozesses veröffentlicht wurde.«
Er drehte einen Knopf an der Kaffeemaschine, ersetzte den Einzelhahn durch einen Doppelhahn, den er aus einer Schublade holte, und stellte die beiden Tassen darunter.
Dann schaltete er das Gerät ein, das leise surrend zu arbeiten begann. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Zitrone zu und schnitt ein Ringelschwänzchen Schale ab, das dem Barkeeper des Savoy Ehre gemacht hätte. »Aha«, sagte er nur und setzte das Messer zum zweiten Mal an.
»Warum hat mit mir nie jemand darüber gesprochen?«, fragte ich.
»Worüber?«
»Das weißt du genau. Über den Prozess. Über Sonias Tod. Über die ganze Situation. Warum wurde nie darüber gesprochen?«
Er schüttelte den Kopf. Er hatte die zweite Schalenspirale abgeschnitten, und als der Espresso fertig war, gab er ein Stück Schale in jede Tasse und reichte mir meine.
»Wollen wir hinausgehen?«, fragte er und wies mit einer Kopfbewegung zum Balkon vor dem Wohnzimmer.
Viel Wohlbehagen versprach der Balkon an diesem grauen Tag nicht, aber er bot immerhin die Ungestörtheit, die ich suchte, und darum folgte ich meinem Vater nach draußen.
Wir waren, wie ich erwartet hatte, völlig allein dort draußen. Die anderen Balkone ringsherum waren leer. Jills Terrassenmöbel waren schon zugedeckt, aber mein Vater nahm die Plastikhülle von zwei Stühlen ab, und wir setzten uns. Er stellte die Tasse mit dem Espresso auf sein Knie und schloss den Reißverschluss seines Parkas.
»Ich habe die Zeitungen von damals nicht aufgehoben«, sagte er. »Ich habe sie mir gar nicht angesehen. Ich wollte nur vergessen. Mir ist klar, dass darüber heute sämtliche Seelenspezialisten entsetzt die Augenbrauen hochziehen würden, ihrer Meinung nach sollen wir uns ja ständig in der Erinnerung suhlen, aber zu meiner Zeit war das nicht Mode, Gideon. Ich habe es durchlebt - die Tage, Wochen und Monate -, und als es vorbei war, wollte ich nur eines: Vergessen, dass es je geschehen war.«
»Hat Mutter auch so empfunden?«
Er hob seine Tasse, aber er ließ mich nicht aus den Augen, während er trank. Dann sagte er: »Das weiß ich nicht. Wir konnten nicht darüber sprechen. Keiner von uns konnte darüber sprechen. Denn dann hätte man es ja alles noch einmal durchmachen müssen.«
»Aber ich muss jetzt darüber sprechen.«
»Ist das auch eine der Empfehlungen deiner teuren Dr. Rose? Sonia liebte die Geige, falls dich das interessiert. Genauer gesagt, sie liebte dich und dein Spiel. Sie sprach sehr wenig - Kinder mit dieser Krankheit lernen das Sprechen im Allgemeinen erst spät -, aber sie konnte deinen Namen sagen.«
Es war wie eine bewusste Verletzung, ein feiner, aber gezielter Stich mitten in mein Herz. »Vater -«
Er fiel mir ins Wort. »Vergiss es. Das war unfair.«
»Warum hat später nie jemand von ihr gesprochen? Nachdem sie - nach dem Prozess«, fragte ich, obwohl die Antwort auf der Hand lag: In unserer Familie wurde nie über Unerfreuliches gesprochen. Großvater tobte von Zeit zu Zeit wie ein Wahnsinniger, wurde bei helllichtem Tag oder bei Nacht und Nebel aus dem Haus geführt, gezerrt oder gekarrt und blieb mehrere Wochen lang weg, aber keiner von uns verlor je ein Wort darüber. Meine Mutter verschwand eines Tages und nahm nicht nur jedes einzelne Stück mit, das ihr gehörte, sondern auch alles, was daran hätte erinnern können, dass sie einmal Teil der Familie gewesen war, aber es fiel uns gar nicht ein, auch nur einmal Mutmaßungen darüber anzustellen, warum sie fortgegangen war und wohin. Und da wunderte ich mich, auf dem Balkon der Geliebten meines Vaters sitzend, darüber, dass niemals über Sonia gesprochen worden war! Dabei war es doch in unserer Familie schon immer so gewesen, dass man nie über etwas gesprochen hatte, das schmerzhaft, tragisch, grausam oder traurig war.
»Wir wollten vergessen, dass es geschehen war.«
»Ihr wolltet Mutter vergessen? Und
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