11 - Nie sollst Du vergessen
Betreuung helfen. Man könnte vielleicht einen zweiten Untermieter ins Haus nehmen, um die Einnahmen aufzustocken.
So kommt Katja Wolff zu uns. Aber sie ist keine ausgebildete Kinderschwester. Sie hat weder Kurse noch eine Schule besucht, um die Kinderpflege zu erlernen. Aber sie ist eine gebildete junge Frau, und sie ist hilfsbereit, anhänglich, dankbar und - auch das muss gesagt werden - preiswert. Sie liebt Kinder und braucht dringend Arbeit. Und die Familie Davies braucht dringend Hilfe.
6. Oktober
Noch am selben Abend besuchte ich meinen Vater. Wenn überhaupt jemand den Schlüssel zur Erinnerung besitzt, nach dem ich suche, dann mein Vater.
Er war bei Jill. Ich traf die beiden auf der Vortreppe ihres Hauses an. Sie steckten mitten in einer jener höflichen, aber geladenen Auseinandersetzungen, die sich unter liebenden Paaren entzünden, wenn durchaus vernünftige Wünsche der Partner kollidieren. Hier ging es offenbar darum, ob Jill in ihrem hochschwangeren Zustand noch Auto fahren sollte oder nicht.
»Das wäre gefährlich und absolut unverantwortlich«, sagte mein Vater gerade. »Der Wagen ist doch nur noch ein Schrotthaufen. Herrgott noch mal, ich rufe dir ein Taxi. Oder ich fahre dich selbst.«
Und Jill versetzte hitzig: »Würdest du bitte aufhören, mich wie ein Zuckerpüppchen zu behandeln. Ich habe das Gefühl, ich bekomme überhaupt keine Luft mehr, wenn du so bist.«
Sie wollte ins Haus gehen, aber er hielt sie am Arm fest.
»Schatz! Bitte!«, sagte er, und ich hörte seiner Stimme an, wie groß seine Angst um sie war.
Ich konnte ihn verstehen. Er war, was seine Kinder anging, nicht vom Glück gesegnet. Virginia tot. Sonia tot. Zwei von drei Kindern tot. Kein Wunder, dass er Angst hatte.
Zu Jills Verteidigung muss gesagt werden, dass auch sie dafür Verständnis zu haben schien. Sie sagte, ruhiger jetzt: »Ach komm, das ist doch albern«, aber ich glaube, gleichzeitig war sie gerührt von seiner Besorgtheit um ihr Wohlbefinden.
Dann sah sie mich unten auf dem Bürgersteig, wo ich unschlüssig dastand und überlegte, ob ich mich unbemerkt wieder davonmachen oder mit großem Hallo, das nur falsches Getue gewesen wäre, zu ihnen gehen sollte.
»Hallo!«, rief sie mir zu. »Da ist Gideon, Schatz.«
Mein Vater drehte sich herum. Dabei ließ er ihren Arm los, und sie sperrte die Haustür auf und ging uns beiden voraus nach oben.
Ihre Wohnung, in einem Altbau, der vor einigen Jahren von einem geschäftstüchtigen Unternehmer entkernt und völlig renoviert worden ist, entspricht in jeder Beziehung dem letzten Schrei: überall Teppichböden, in der Küche Kupfergeschirr, das von der Decke baumelt, in Küche und Bad modernste Geräte, die auch tatsächlich funktionieren, und an den Wänden Gemälde, bei denen man das Gefühl hat, sie werden gleich von der Leinwand rutschen und irgendwas Zweifelhaftes aufführen. Kurz, die Wohnung ist ganz Jill. Ich bin gespannt, wie mein Vater mit ihrem Geschmack zurechtkommen wird, wenn die beiden zusammenleben. Obwohl sie ja schon jetzt praktisch zusammenleben. So wie mein Vater ständig um Jill herumtanzt, kann man beinahe von Obsession sprechen.
Ich überlegte, ob ich ihn gerade jetzt, da seine Ängste wegen des Kindes, das er und Jill erwarten, täglich wachsen, überhaupt auf Sonia ansprechen sollte. Mein Körper sagte klar Nein: beginnendes Kopfweh und stechende Magenschmerzen, die eindeutig Nervosität waren.
»Ich lasse euch allein«, sagte Jill. »Ich habe sowieso noch zu arbeiten, und du bist ja sicher nicht meinetwegen gekommen, nicht wahr?«
Es war wahr, ich hätte daran denken sollen, Jill hin und wieder zu besuchen, zumal sie, so merkwürdig die Vorstellung auch war, bald meine Stiefmutter werden würde. Aber an der Art, wie sie fragte, merkte man, dass es ihr wirklich nur um die Information ging und nicht darum, eine Spitze anzubringen.
Ich sagte: »Ich wollte ein, zwei Dinge -«
»Natürlich«, unterbrach sie. »Ich bin im Arbeitszimmer.« Sie entfernte sich durch den Flur.
Mein Vater ging mit mir in die Küche. Er schob Jills beeindruckende Kaffeemaschine in die Mitte der Arbeitsplatte und kippte Espressobohnen hinein. Die Kaffeemaschine ist - ganz Jills Vorliebe für alles Zeitgemäße entsprechend - ein erstaunliches Gerät, das in weniger als einer Minute jede Art von Kaffee zubereitet, die das Herz begehrt: Kaffee, Cappuccino, Espresso, Latte macchiato. Die Maschine schäumt die Milch auf und kocht das Wasser und würde vermutlich auch
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