11 - Nie sollst Du vergessen
was Sarah-Jane Beckett vor so vielen Jahren zu mir gesagt hatte: Du bist nicht mehr der Nabel der Welt. Und ich sah nicht Libby, die neben mir im Auto saß, sondern ich sah Sarah-Jane Beckett. Ich sehe sie jetzt noch, wie sie sich zu mir herunterbeugt und mich mit zusammengekniffenen Augen mustert. Das ganze Gesicht ist verzerrt, die Augen sind Schlitze, hinter kurzen Wimpern verborgen.
Was meint sie, wenn sie das sagt?, fragen Sie.
Ja, das eben ist die Frage.
Ich war ungezogen in der Zeit, als ich mich unter ihrer Obhut befand. Es blieb ihr überlassen, mich angemessen zu bestrafen, und sie hat mir eine gründliche Standpauke gehalten, wie das ihre Art ist. In Großvaters Schrank steht ein Holzkasten mit Schuhputzzeug, und über den habe ich mich hergemacht. Im ganzen oberen Korridor habe ich die Wände mit brauner und schwarzer Schuhcreme beschmiert. So was Langweiliges, dachte ich die ganze Zeit, während ich die Tapete ruinierte und mir die Hände an den Vorhängen abwischte. Aber in Wirklichkeit geht es nicht um Langeweile, und Sarah-Jane weiß das. Ich habe es nicht aus Langeweile getan.
Wissen Sie denn, warum Sie es getan haben?, fragen Sie.
Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher. Aber ich glaube, ich bin wütend und habe Angst. Das ist sehr deutlich, ja, diese starke Angst.
In Ihren Augen blitzt Interesse auf, Dr. Rose. Ah, jetzt geht es vorwärts. Wut und Angst. Emotionen. Leidenschaft, Etwas, womit Sie arbeiten können.
Aber ich habe kaum mehr dazu zu sagen. Nur dies: Als Libby mir das von den anderen Menschen auf der Welt vorhielt, bekam ich Angst. Ganz eindeutig. Und diese Angst hatte mit der anderen Angst, vielleicht nie wieder auf meiner Geige spielen zu können, nichts zu tun. Sie war klar von ihr getrennt und hatte auch keinen Bezug zu dem Gespräch, das Libby und ich führten. Trotzdem überfiel sie mich mit einer solchen Macht, dass ich unwillkürlich »Nicht!« rief. Dabei war es die ganze Zeit über gar nicht Libby, mit der ich sprach.
Und wovor haben Sie Angst?, fragen Sie.
Das dürfte doch wohl offensichtlich sein.
3. Oktober, 15.30 Uhr
Wir wurden ins Archiv hinaufgeschickt. Das ist ein riesiges Lager mit endlosen Rollregalen voller Zeitungsausschnitte, die in großen braunen Umschlägen gesammelt und nach Sachgebieten katalogisiert sind. Kennen Sie das? Da sitzen professionelle Leser, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als sämtliche größeren Zeitungen zu durchforsten und Artikel auszuschneiden und zu kennzeichnen, die dann der Archivbibliothek einverleibt werden. In einer Ecke gibt es einen Tisch und ein Kopiergerät für Leute, die hier irgendetwas recherchieren wollen.
Ich erklärte einem schlecht gekleideten jungen Mann mit langen Haaren, was ich suchte.
»Sie hätten vorher anrufen sollen«, sagte er. »Das wird gut zwanzig Minuten dauern. Die Sachen liegen nicht hier oben.«
Ich sagte, ich würde warten, aber als der junge Mann gegangen war, um sich um meinen Auftrag zu kümmern, wurde mir bewusst, wie nervös ich war. Ich konnte unmöglich bleiben. Das Atmen bereitete mir Mühe, und mir war so heiß, dass ich schwitzte wie Raphael. Ich erklärte Libby, ich brauche frische Luft. Sie ging mit mir zur Vauxhall Bridge Road hinaus. Aber auch draußen konnte ich kaum atmen.
»Das ist der Verkehr«, sagte ich zu Libby. »Die Abgase.« Ich keuchte wie ein ausgepumpter Langstreckenläufer. Und dann meldeten sich auch noch Magen und Darm mit solcher Heftigkeit, dass ich eine demütigende Entladung mitten auf der Straße fürchtete.
»Du siehst aus wie frisch gekotzt, Gid«, sagte Libby.
»Nein, nein. Es geht mir gut«, versicherte ich.
»Wenn's dir gut geht, bin ich die Jungfrau Maria«, entgegnete sie. »Komm, weg hier von der Straße.«
Sie führte mich in ein Cafe und suchte uns einen Tisch. »Du rührst dich jetzt nicht von der Stelle«, sagte sie zu mir, nachdem sie mich auf einen Stuhl gedrückt hatte, »außer dir wird schlecht oder so was. Dann steckst du den Kopf zwischen die Knie, okay?«
Sie ging zum Tresen und kehrte mit einem Orangensaft zurück.
»Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«, fragte sie.
Und ich - Lügner und Feigling - ließ ihr ihren Glauben. »Ich weiß nicht mehr genau«, antwortete ich und kippte den Orangensaft hinunter, als wäre er ein Zaubertrank, der mir alles wiedergeben könnte, was ich bisher verloren habe.
Verloren?, wiederholen Sie, stets hellwach und aufmerksam.
Ja. Was ich verloren habe: die Musik, Beth, meine Mutter, meine
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