11 - Nie sollst Du vergessen
Kindheit und Erinnerungen, die für andere Selbstverständlichkeiten sind.
Und Sonia?, fragen Sie. Sonia auch? Würden Sie sie zurückhaben wollen, wenn das möglich wäre, Gideon?
Ja, natürlich. Aber eine andere Sonia, antworte ich und verstumme unter der plötzlich hereinbrechenden Flut des Bedauerns über jene Besonderheit meiner Schwester, die ich völlig vergessen hatte.
3. Oktober, 18 Uhr
Als sich meine rebellischen Eingeweide beruhigt hatten und ich wieder normal atmen konnte, kehrten Libby und ich ins Zeitungsarchiv zurück. Dort erwarteten uns fünf dicke braune Umschläge, voll gestopft mit Presseausschnitten aus einer Zeit, die mehr als zwanzig Jahre zurücklag: eselsohrig, muffig riechend, vergilbt.
Während Libby sich einen Stuhl holte, um sich zu mir an den Tisch setzen zu können, griff ich nach dem ersten Umschlag und öffnete ihn.
Mörderisches Kindermädchen verurteilt, sprang es mir entgegen und vermittelte zugleich die Gewissheit, dass Schlagzeilen immer Schlagzeilen bleiben werden. Begleitet wurde der Titel von einem Bild, das mir die Mörderin meiner Schwester zeigte. Es schien gleich zu Beginn des Verfahrens aufgenommen worden zu sein, denn nicht in einem der Gerichtssäle des Old Bailey oder im Gefängnis war Katja Wolff von der Kamera eingefangen worden, sondern in der Earl's Court Road vor dem Polizeirevier Kensington, das sie gerade in Begleitung eines untersetzten Mannes in schlecht sitzendem Anzug verließ. Unmittelbar hinter ihm, vom Türpfosten teilweise verdeckt, befand sich eine Gestalt, die ich sicherlich nicht erkannt hätte, wären mir nicht die Statur und die allgemeine Erscheinung aus beinahe fünfundzwanzig Jahren täglicher Geigenstunden vertraut gewesen: Raphael Robson. Ich nahm die Anwesenheit der beiden Männer - der Untersetzte war vermutlich Katja Wolffs Anwalt - wahr, aber meine Aufmerksamkeit galt zunächst einzig Katja Wolff.
Sie hatte sich sehr verändert seit dem Tag, an dem das sonnige Foto im Garten aufgenommen worden war. Das Foto war gestellt gewesen; dieser Schnappschuss hingegen war offensichtlich in einem Moment der Hektik gemacht, wie er entsteht, wenn eine Person des öffentlichen Interesses aus einem Gebäude ins Freie tritt und, von Freunden oder Personal umgeben, zum wartenden Wagen eilt, in dem sie schnell verschwindet. Das Bild zeigte deutlich, dass das öffentliche Interesse - zumindest dieser Art - Katja Wolff nicht gut getan hatte. Sie wirkte abgemagert und krank. Auf dem Gartenfoto hatte sie offen in die Kamera gelächelt; hier versuchte sie, ihr Gesicht zu verstecken. Der Fotograf musste ihr sehr nahe gekommen sein, denn das Bild war nicht körnig, wie man das bei einem Telefoto erwarten würde; im Gegenteil, jedes Detail des Gesichts der jungen Frau war durch die Nähe der Kamera gnadenlos scharf gezeichnet.
Die Lippen waren so fest zusammengepresst, dass sie schmal wirkten. Schatten lagen wie dunkle Halbmonde unter den Augen. Die klar geschnittenen Züge hatten in dem abgemagerten Gesicht eine hässliche Schärfe bekommen. Die Arme waren streichholzdünn, und aus dem V-Ausschnitt der Bluse traten spitz die Schlüsselbeinknochen hervor.
Dem Artikel entnahm ich, dass der zuständige Richter, ein Mann namens St. John Wilkes, Katja Wolff - wie vom Gesetz bei Mord gefordert - zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt hatte, wobei er seinen Spruch durch die ungewöhnliche Empfehlung an das Innenministerium ergänzt hatte, man möge die Verurteilte keinesfalls weniger als zwanzig Jahre verbüßen lassen. Dem Berichterstatter zufolge, der im Gerichtssaal gewesen war, war die Angeklagte bei der Urteilsverkündung aufgesprungen und hatte angeblich laut gerufen: »Lassen Sie mich erklären, wie es wirklich war.« Aber ihr Angebot, nun endlich zu sprechen - sie hatte während der Ermittlungen und den ganzen Prozess hindurch hartnäckig geschwiegen -, war zu spät gekommen. Es hatte allgemein den Verdacht erregt, sie hoffe, von plötzlicher Panik getrieben, auf einen Handel mit der Kronanwaltschaft.
»Wir wissen, wie es war«, erklärte Bertram Cresswell-White, Vertreter der Kronanwaltschaft, später vor der Presse. »Wir wissen es von der Polizei und der Gerichtsmedizin, wir wissen es von der Familie und Miss Wolffs eigenen Freunden. Sie war in einer Lebenssituation gefangen, mit der sie nicht zurechtkam, sie war wütend, weil sie sich ungerecht behandelt fühlte, und als sie eine Gelegenheit sah, sich dieses Kindes zu entledigen, das
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