11 - Nie sollst Du vergessen
abzubrechen, Raphael Robson und Sarah-Jane Beckett zu entlassen und mich in eine öffentliche Schule zu schicken. Die Summe, die sich mit diesen einfachen und vernünftigen Maßnahmen einsparen ließe, würde es meiner Mutter erlauben, zu Hause zu bleiben, sich um Sonia zu kümmern und diese während der immer wieder auftretenden gesundheitlichen Krisen zu pflegen.
Aber ein solcher Schritt ist für alle aus der Familie undenkbar. Ich habe mit meinen sechseinhalb Jahren bereits meinen ersten öffentlichen Auftritt hinter mir, und es wäre in den Augen aller ein ungeheuerliches Banausentum, der Welt zu verweigern, was ich ihr zu geben habe. Aber zweifellos wurde eine solche Maßnahme zwischen meinen Eltern und meinen Großeltern erörtert.
Ja, ich erinnere mich. Meine Mutter und mein Vater führen im Wohnzimmer eine Diskussion, und mein Großvater mischt sich lautstark ein. »Der Junge ist ein Genie, verdammt noch mal! Ein Genie!«, brüllt er. Großmutter ist auch da. Ich höre ihr ängstliches »Jack, Jack!« und sehe sie vor mir, wie sie zur Stereoanlage läuft und Paganini auflegt, um das Wüten meines Großvaters zu besänftigen. »Er gibt bereits Konzerte! Wenn ihr seine Karriere abbrechen wollt, dann nur über meine Leiche!«, tobt Großvater.
»Tu mir also den Gefallen und triff wenigstens einmal in deinem Leben - nur ein einziges Mal, Dick - die richtige Entscheidung.«
Raphael und Sarah-Jane sind an der Debatte nicht beteiligt. Es geht um ihre Zukunft und um meine, aber sie werden ebenso wenig um ihre Meinung gefragt wie ich.
Der Disput setzt sich über Stunden und Tage fort. Meine Mutter ist noch von Schwangerschaft und Entbindung geschwächt, und die schwierige Situation wird durch Sonias gesundheitliche Probleme verschärft.
Das Baby ist beim Arzt - im Krankenhaus - in der Notaufnahme. Wir alle befinden uns in einem Zustand ständiger Anspannung und ängstlicher Beklemmung. Die Nerven liegen blank. Immer steht die Frage im Raum: Was wird als Nächstes geschehen?
Krisen, nichts als Krisen. Ständig Unruhe und Tumult. Manchmal scheint kein Mensch zu Hause zu sein außer Raphael und mir, oder Sarah-Jane und mir. Alle anderen sind bei Sonia.
Warum?, fragen Sie. Was waren das für Krisen, die Sonia durchmachte?
Ich weiß nur noch: Er hat gesagt, er erwartet uns im Krankenhaus. Gideon, geh in dein Zimmer. Und ich erinnere mich an Sonias dünnes Weinen, das allmählich leiser wird, als sie sie mitten in der Nacht die Treppe hinuntertragen und mit ihr aus dem Haus eilen.
Ich gehe in ihr Zimmer, es liegt neben meinem. Das Kinderzimmer. Ein Licht brennt, und neben ihrem Bettchen steht irgendeine Maschine, an die sie während des Schlafs angeschlossen wird. Auf der Kommode steht eine Nachtlampe mit einem bunten Schirm, der sich dreht; dieselbe Lampe, die sich neben meinem Bettchen gedreht hat, demselben Bettchen, in dem Sonia jetzt schläft. Ich sehe die Kerben in den Gitterstäben, die meine Zähne hinterlassen haben, und ich sehe die Abziehbilder mit den Arche-Noah-Motiven, die ich immer angestarrt habe. Und obwohl ich schon sechseinhalb bin, klettere ich in das Gitterbett, rolle mich zusammen und warte, was geschehen wird.
Und was geschieht?
Nach einer Weile kommen sie wieder nach Hause, wie immer, mit Medikamenten, mit dem Namen eines Arztes, den sie am Morgen aufsuchen sollen, mit Verhaltensvorschriften oder einem Diätplan, an den sie sich halten sollen. Manchmal kommen sie mit Sonia nach Hause. Manchmal ohne sie, weil man sie im Krankenhaus behalten hat.
Darum weint meine Mutter morgens bei der Messe. Und darüber wird sie mit Schwester Cecilia gesprochen haben, an jenem Tag, an dem wir im Kloster waren und ich das Bücherregal ins Wanken brachte und die Figur der Heiligen Jungfrau zerbrach. Die Nonne spricht fast immer leise murmelnd, ich vermute, um meine Mutter zu trösten, die gewiss an vielerlei leidet - an Schuldgefühlen, ein Kind geboren zu haben, das nahezu ununterbrochen krank ist; an der Angst vor dem, was als Nächstes hinter der Tür lauert; am Zorn über die Ungerechtigkeit des Lebens und an purer seelischer und körperlicher Erschöpfung.
In dieser bedrängenden Situation wird vermutlich die Idee geboren, eine Kinderfrau zu engagieren. Das wäre die ideale Lösung für alle. Mein Vater könnte seine zwei Arbeitsplätze behalten; meine Mutter könnte wieder arbeiten gehen; Raphael und Sarah-Jane könnten sich weiterhin um mich kümmern; und die Kinderfrau könnte bei Sonias
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