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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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ohnehin nicht gesund war, drückte sie mit böswilligem Vorsatz und aus Rachegefühlen gegenüber der Familie Davies das Kind in der Badewanne unter Wasser und hielt es trotz seiner kläglichen Versuche, sich zu wehren, dort so lange fest, bis es ertrank. Danach schlug sie Alarm. So war es. So ist es nachgewiesen. Und für diese Tat hat Richter Wilkes die vom Gesetzgeber geforderte Strafe verhängt.«
    »Sie muss für zwanzig Jahre ins Gefängnis, Dad.« Ja. Ja. Das sagt mein Vater zu meinem Großvater, als er ins Zimmer tritt, wo wir auf Nachricht warten: Großvater, Großmutter und ich. Wir sitzen nebeneinander auf dem Sofa im Wohnzimmer, ich in der Mitte. Und ja, meine Mutter ist auch da. Sie weint wie immer, so kommt es mir vor, nicht erst seit Sonias Tod, sondern seit ihrer Geburt.
    Die Geburt eines Kindes sollte ein freudiges Ereignis sein; aber an Sonias Geburt kann wenig Erfreuliches gewesen sein. Das begriff ich endlich, als ich den ersten Zeitungsausschnitt auf die Seite gelegt hatte und mir den zweiten ansah - eine Fortsetzung der Titelgeschichte -, der darunter lag. Hier stieß ich auf ein Bild des Opfers und blickte mit tiefer Beschämung dem ins Auge, was ich jahrzehntelang vergessen oder verdrängt hatte.
    Libby, die inzwischen einen Stuhl gefunden hatte und ihn hinter sich herziehend wieder ins Archiv gekommen war, sah es sofort, als sie sich zu mir setzte. Sie wusste nicht, dass das Bild meine Schwester zeigte, denn ich hatte ihr nicht gesagt, was ich hier im Archiv suchte. Sie hatte mich nach Zeitungsausschnitten über den Wolff-Prozess fragen hören, aber mehr auch nicht.
    Sie setzte sich also mit an den Tisch, drehte sich halb zu mir her und griff mit den Worten: »Na, was hast du aufgestöbert?«, nach dem Bild. Sobald ihr Blick darauf fiel, sagte sie, »Oh! Die Kleine leidet am Downsyndrom, nicht? Wer ist sie?«
    »Meine Schwester.«
    »Ehrlich? Aber du hast nie was davon gesagt ...« Sie blickte hoch und sah mich an. Vorsichtig, vermutlich weil sie mir nicht zu nahe treten wollte, sagte sie: »Hast du dich - geschämt oder so was? Ihretwegen, meine ich. Mensch, Gid, das ist doch keine Schande! Das Downsyndrom, meine ich.«
    »›Oder so was‹«, erwiderte ich. »Absolut erbärmlich.
    Wirklich schlimm.«
    »Wieso? Was hast du denn getan?«
    »Ich habe sie einfach vergessen. Das alles hier.« Ich wies auf die Unterlagen. »Ich konnte mich an nichts erinnern. Ich war acht Jahre alt, jemand ertränkte meine Schwester -«
    » Ertränkte deine -«
    Ich packte sie am Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass das ganze Personal im Archiv erfährt, wer ich bin. Glauben Sie mir, ich habe mich auch so schon genug geschämt.
    »Schau sie dir an«, sagte ich zu Libby. »Schau es dir selber an. Und ich hatte keine Erinnerung an sie, Libby. Ich habe mich an nichts erinnert.«
    »Aber warum denn nicht?«, fragte sie.
    Weil ich nicht wollte.

3. Oktober, 22.30 Uhr
    Ich habe eigentlich erwartet, dass Sie sich mit Triumphgeheul auf dieses Bekenntnis stürzen würden, Dr. Rose, aber Sie hüllen sich in Schweigen. Sie begnügen sich damit, mich zu beobachten. Aber wissen Sie, auch wenn Sie sich darin geübt haben, ihre Gesichtszüge zu beherrschen, um nichts zu verraten, besitzen Sie doch keine Macht über das Licht, das in Ihren Augen aufzublitzen pflegt. Nur einen Wimpernschlag lang sehe ich es aufleuchten - dieses Fünkchen -, und es verrät mir, dass Sie wünschen, ich möge hören, was ich eben gesagt habe.
    Ich hatte keine Erinnerung an meine Schwester, weil ich mich nicht erinnern wollte. So muss es sein. Wir wollen uns nicht erinnern, wir ziehen es vor zu vergessen. Aber ist es nicht in Wahrheit so, dass wir uns manchmal einfach nicht erinnern müssen und dass uns manchmal das Vergessen befohlen wird.
    Trotzdem, eines kann ich nicht verstehen. Die so genannten Episoden meines Großvaters waren das große Familiengeheimnis, und doch habe ich sie klar im Gedächtnis, und ich weiß noch genau, was sie verursacht hat und dass meine Großmutter jedes Mal Musik auflegte, weil sie hoffte, sie damit verhindern zu können. Ich weiß noch, wie diese Episoden abgelaufen sind, von was für einem Chaos sie begleitet waren, und wie meine Großmutter weinte, wenn die Leute von der Anstalt kamen, um meinen Großvater wegzubringen. Aber gesprochen wurde bei uns nie über diese Episoden. Wieso also erinnere ich mich so deutlich an sie - und an meinen Großvater -, aber nicht an meine

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