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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Gefangenschaft zu befreien.
    »An Krisen. Wie Sonia zum Arzt gebracht wurde oder ins Krankenhaus oder - ich weiß nicht, wohin noch.«
    Er ließ sich in seinen Gartenstuhl zurücksinken und blickte wie ich zu dem Hund hinüber, der so eifrig um unsere Aufmerksamkeit buhlte. »Kein Platz für Geschöpfe mit eigenen Bedürfnissen«, sagte er, und ich konnte nicht sagen, ob er von dem Tier sprach oder von sich selbst, von mir oder meiner Schwester. »Zuerst war es das Herz. Einen atriospektalen Defekt, nannten sie es. Wir merkten sehr schnell - gleich nach der Geburt - an ihrer Hautfarbe und ihrem Puls, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie wurde sofort operiert, und wir dachten, gut, damit ist das Problem erledigt. Aber dann kam schon das nächste, ihr Magen - duodenale Stenose. Kommt bei Kindern mit Downsyndrom häufig vor, erklärte man uns. Als wäre die Tatsache, dass sie am Downsyndrom litt so harmlos wie meinetwegen ein Schielauge. Es folgte also die nächste Operation. Danach stellte man fest, dass sie keine Afteröffnung hatte. Man sagte zu uns, diese Kleine scheint ja so ziemlich alles zu haben, was das Downsyndrom so mit sich bringt. Ein Extremfall. Da werden wir sie wohl noch einmal aufmachen müssen. Und noch einmal. Und noch einmal. Sie bekam ein Hörgerät. Und Medikamente en masse. Wir können nur hoffen, hieß es, dass es nicht zu schlimm für sie ist, so oft operiert werden zu müssen, bis wir sie endlich richtig hinkriegen.«
    »Dad -« Ich wollte ihm den Rest ersparen. Er hatte genug gesagt. Er hatte genug durchgemacht. Er hatte nicht nur ihr Leiden, sondern auch ihren Tod miterleben müssen, und vor diesem Tod seinen eigenen Schmerz und den meiner Mutter und zweifellos auch den seiner Eltern getragen ...
    Ehe ich ihm sagen konnte, was mir auf der Zunge lag, hörte ich auf einmal wieder meinen Großvater. Mir verschlug es den Atem wie nach einem harten Schlag in den Magen, trotzdem musste ich die Frage stellen. »Dad«, sagte ich, »wie ist Großvater mit der Situation fertig geworden?«
    »Fertig geworden? Er ist gar nicht erst zum Prozess gegangen. Er -«
    »Ich meine nicht den Prozess. Ich spreche von Sonia. Von ihrer - ihrer Krankheit.«
    Ich kann ihn hören, Dr. Rose. Ich kann ihn wirklich hören. Er brüllt. Er brüllt, wie er immer brüllt - wie der alte Lear, nur dass der Sturm, gegen den er anbrüllt, nicht draußen auf dem Moor tobt, sondern in seinem eigenen Inneren. Krüppel, schreit er. Du bist nicht fähig, etwas anderes als Krüppel zu produzieren. Speichel sammelt sich in seinen Mundwinkeln. Meine Großmutter packt ihn beim Arm und spricht leise seinen Namen, aber er nimmt nichts wahr als Sturm und Donnerwetter in seinem eigenen Kopf.
    Mein Vater sagte: »Dein Großvater war ein gequälter Mensch, Gideon, aber ein großer und guter Mensch. So grimmig wie die Dämonen, die ihn geplagt haben, war sein Kampf gegen sie.«
    »Hat er sie geliebt?«, fragte ich. »Hat er sie auf den Arm genommen? Mit ihr gespielt? Sie als sein Enkelkind betrachtet?«
    »Sonia war in der Zeit, die sie bei uns war, sehr oft krank. Sie war zart. Ein Notfall löste den anderen ab.«
    »Er wollte also nichts von ihr wissen«, stellte ich fest.
    Mein Vater antwortete nicht. Er stand auf und trat ans Geländer des Balkons. Der Altenglische Schäferhund jaulte keuchend, beinahe lautlos, und sprang mit dem Eifer der Verzweiflung am Balkongitter hoch.
    »Warum tut man Tieren so etwas an?«, sagte mein Vater. »Es ist doch völlig unnatürlich. Wenn jemand unbedingt ein Haustier haben will, dann sollte er angemessen dafür sorgen. Wenn das nicht möglich ist, sollte er es weggeben, verdammt noch mal.«
    »Du sagst es mir nicht, stimmt's?«, insistierte ich. »Wie Großvater zu Sonia stand. Du sagst es mir nicht.«
    »Dein Großvater war eben dein Großvater«, antwortete mein Vater, und damit war der Fall für ihn erledigt.

8
    Wenn ich das Glück gehabt hätte, Rock Peters irgendwo in Mexiko zu begegnen und dort zu heiraten, dachte Liberty-Libby-Neale, dann wäre ich jetzt nicht in dieser beschissenen Situation. Ich hätte mich von dem Fiesling scheiden lassen können, und das war's dann gewesen. Aber sie war ihm leider nicht in Mexiko begegnet. Sie war gar nicht in Mexiko gewesen. Sie war nach England gekommen, weil sie in der High School eine solche Niete in Fremdsprachen gewesen war, dass England so ziemlich das einzige Ausland war, wo die Leute eine Sprache sprachen, die sie verstand. Kanada zählte

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