11 - Nie sollst Du vergessen
kaum.
Frankreich wäre ihr lieber gewesen - sie hatte eine Schwäche für Croissants, obwohl man darüber besser kein Wort verlor -, aber gleich in den ersten Tagen hatte London ihr ein wesentlich breiteres Spektrum an kulinarischen Abenteuern geboten, als sie erwartet hatte, und daraufhin hatte es ihr hier recht gut gefallen, außer Reichweite der Eltern und - das war das Entscheidende! - tausende von Meilen entfernt von ihrer älteren Schwester, diesem Ausbund an Vollkommenheit. Equality Neale war groß, schlank, intelligent und eloquent. Alles, was sie sich vornahm, schaffte sie mit Leichtigkeit und war obendrein noch an der Los Altos High School zur beliebtesten Schulabgängerin des Jahres gewählt worden. Da konnte man doch nur noch kotzen! Nichts wie weg, hatte sie sich darum gesagt, und war schleunigst nach London abgehauen.
Aber in London hatte sie Rock Peters kennen gelernt. In London hatte sie diesen Widerling geheiratet. Und in London - wo sie sich bis jetzt trotz ihrer Heirat weder Arbeitserlaubnis noch unbefristete Aufenthaltserlaubnis hatte sichern können - war sie Rock ausgeliefert, während sie in Mexiko ganz leicht mit einem kurzen »Du kannst mich mal, Jack« hätte abhauen können. Das Geld dafür hätte sie zwar auch dort nicht gehabt, aber das wäre kein Hindernis gewesen. Der Daumen sprach eine Sprache, die jeder verstand, und sie hätte keine Angst davor gehabt, sich an die Straße zu stellen. Aber in England ging das natürlich nicht; man konnte nicht gut über den Atlantik trampen.
Rock hatte sie in der Hand. Sie wollte in England bleiben. Keinesfalls wollte sie das Handtuch werfen und Mama und Papa, die mit jedem Brief Loblieder auf Alis Tüchtigkeit sangen, bitten, sie nach Hause zu holen. Aber um in England bleiben zu können, brauchte sie Geld. Und um zu Geld zu kommen, brauchte sie Rock. Natürlich hätte sie sich eine andere Schwarzarbeit suchen können, aber da wäre die Gefahr, erwischt zu werden, groß gewesen, und damit auch die Gefahr, abgeschoben zu werden, heim nach Los Altos Hills, zu Mama und Papa und den ewig gleichen guten Ratschlägen: »Arbeite doch eine Weile bei Ali, Lib. In der Publicrelationsbranche könntest du ...« Bla-bla-bla. Nie im Leben, schwor sich Libby, würde sie sich freiwillig in die Nähe ihrer Schwester begeben.
Aber damit hatte Rock natürlich Macht über sie. Wenn er pfiff, musste sie springen. Nur deshalb ging sie seit einiger Zeit wieder zwei-, dreimal die Woche mit dem Arschloch ins Bett, wenn er es verlangte. Ihre Versuche, ihn abzuwimmeln, indem sie eine eilige Lieferung vorschob und fragte, ob ihm zuverlässige Arbeit gar nicht wichtig sei, halfen nichts. Wenn Rock bumsen wollte, dann wollte er bumsen, und basta.
So war es auch an diesem Tag gelaufen, und zwar in der Bruchbude über dem Lebensmittelgeschäft in Bermondsey, wo es ihr, wenn sie sich auf den Verkehrslärm der Straße konzentrierte, meist gelang, Rocks schweinemäßiges Grunzen an ihrem Ohr auszublenden. Wie immer war sie hinterher so stinksauer gewesen, dass sie ihm am liebsten den Schwanz kupiert hätte. Aber da das leider Wunschtraum bleiben musste, war sie einfach abgehauen und zu ihrem Stepptanzkurs gegangen.
Dort tanzte sie mit solcher Wut und Verbissenheit, dass ihr der Schweiß bald in Strömen am Körper herablief. »Libby, was tun Sie denn da drüben?«, rief die Lehrerin immer wieder zu den Klängen von On the Sunny Side of the Street, aber Libby schenkte ihr keine Beachtung. Es war ihr völlig egal, ob sie im Takt tanzte oder nicht, in der Reihe oder nicht, die richtigen Schritte machte oder nicht. Hauptsache, das, was sie tat, geschah in so hohem Tempo und erforderte so viel Energie, dass ihr vor Anstrengung alle Gedanken an Rock Peters vergingen. Sonst würde sie sich nämlich auf den nächsten Kühlschrank stürzen und ungefähr sechs Milliarden Kalorien in sich reinstopfen vor lauter Frust über Rock.
»Du musst das so sehen, Lib«, pflegte er zu sagen, wenn es vorbei war und sie, wieder einmal geschlagen, unter ihm lag. »Eine Hand wäscht die andere.« Und dann setzte er dieses blöde Grinsen auf, das sie anfangs so cool gefunden hatte, das aber in Wirklichkeit, wie sie mittlerweile gelernt hatte, nichts weiter als ein Ausdruck der Verachtung war. »Dein Fiedler bringt's offensichtlich nicht. Ich bin ja nicht blöd, ich merk doch, wenn 'ne Frau richtig gebumst worden ist, und du schaust aus wie eine, die seit mindestens einem Jahr keinen guten Fick mehr
Weitere Kostenlose Bücher