11 - Nie sollst Du vergessen
gehabt hat.«
»Stimmt genau, du Blödmann«, gab sie dann wütend zurück.
»Vielleicht denkst du darüber mal nach. Und er ist kein Fiedler. Er spielt Geige.«
»Oh-oh, bitte tausendmal um Entschuldigung«, sagte er, und es interessierte ihn überhaupt nicht, dass sie ihm soeben jegliche Fähigkeit im Bett abgesprochen hatte. Ihm war im Bett nur eines wichtig - zum Schuss zu kommen. Was bei seiner Partnerin ablief, blieb deren Eigeninitiative oder dem Zufall überlassen.
Wieder optimistischer gestimmt, verließ Libby in der Ledermontur, die sie auf ihren Kurierfahrten zu tragen pflegte, das Tanzstudio. Den Rucksack mit den Leggings und den Steppschuhen über der Schulter und den Helm unter dem Arm, ging sie zu ihrer Suzuki. Statt die elektrische Zündung zu benutzen, ließ sie die Maschine mit dem Kickstarter an und stellte sich dabei vor, unter ihrem Fuß wäre Rocks grinsende Visage.
Die Straßen waren verstopft wie immer, aber sie kannte sich inzwischen gut genug aus, um zu wissen, welche Seitenstraßen sie nehmen musste, und sie war frech genug, um sich zwischen Pkws und Lieferwagen nach vorn durchzuschlängeln, wenn der Verkehr ganz zum Erliegen kam. Meistens hatte sie ihren Walkman dabei, den Rekorder in einer Innentasche ihrer Lederjacke, die Ohrstöpsel unter dem Helm, und fast immer hörte sie Teenyrockmusik. Sie liebte sie laut und sang voll Begeisterung mit, weil die Kombination aus Musik, die auf ihr Trommelfell donnerte, und ihrem eigenen grölenden Gesang so ziemlich alles aus ihrem Kopf fegte, worüber sie nicht nachdenken wollte.
Aber heute schaltete sie den Walkman nicht ein. Heute wollte sie nachdenken.
Rock hatte richtig vermutet: Sie hatte Gideon Davies immer noch nicht ins Bett gekriegt - jedenfalls nicht richtig -, und sie verstand nicht, weshalb das so war. Er schien gern mit ihr zusammen zu sein, und er war bis auf das, was im Bett nicht passierte, völlig normal. Trotzdem waren sie in der ganzen Zeit, seit sie in der Wohnung unter ihm wohnte und mit ihm befreundet war, nicht über den Punkt hinausgekommen, den sie an jenem ersten Abend, als sie beim Musikhören beide auf ihrem Bett eingeschlafen waren, erreicht hatten.
Zuerst hatte sie geglaubt, der Typ wäre vielleicht schwul, und ihre Antennen wären nach so langer Zeit mit Rock total unbrauchbar. Aber er verhielt sich nicht wie ein Schwuler, er hing nicht in der Londoner Schwulenszene herum, er bekam nie Besuch von jüngeren oder älteren oder offensichtlich perversen Typen. Die Einzigen, die ihn besuchten, waren sein Vater - der sie hasste wie die Pest und wie den letzten Dreck behandelte - und Rafe Robson, diese Klette.
All diese Beobachtungen hatten Libby zu dem Schluss geführt, dass Gideon nichts fehlte, was nicht durch eine gesunde Beziehung gerichtet werden konnte - vorausgesetzt, sie schaffte es, ihn seinen Betreuern eine Weile zu entführen.
Sie ließ das South Bank, wo ihr Stepptanzkurs stattfand, hinter sich und kämpfte sich durch das Verkehrsgetümmel in der City bis zur Pentonville Road hinauf. Dort beschloss sie, den Schleichweg durch die kleinen Seitenstraßen von Camden Town zu nehmen, anstatt sich dem Gedränge in den Straßen rund um den King's-Cross-Bahnhof auszusetzen. Das war zwar nicht der direkte Weg zum Chalcot Square, aber Libby störte das nicht. Im Gegenteil, sie hatte überhaupt nichts dagegen, über zusätzliche Zeit zu verfügen, um eine Strategie entwickeln zu können, die hoffentlich bei Gideon zu einem Durchbruch führen würde. Sie war überzeugt, dass Gideon Davies mehr war als ein Mann, der, seit er aus den Windeln heraus war, Geige spielte. Natürlich war es super, dass er als Musiker eine echte Berühmtheit war, aber er war doch auch ein Mensch. Und dieser Mensch war mehr als die Musik, die er machte. Dieser Mensch existierte, ob er Geige spielte oder nicht.
Als Libby endlich am Chalcot Square ankam, sah sie als Erstes, dass Gideon nicht allein war. Raphael Robsons uralter Renault stand drüben auf der Südseite des Platzes, ein Rad auf dem Gehweg, als wäre er in großer Eile abgestellt worden. Gideons Musikzimmer war erleuchtet, und durch das Fenster konnte Libby die unverkennbare Silhouette Robsons erkennen. Er rannte - wie immer mit dem Taschentuch in der Hand, um sich das schweißtriefende Gesicht zu wischen -, ununterbrochen hin und her und redete dabei wie ein Wasserfall. Oder predigte wahrscheinlich. Libby konnte sich denken, worüber.
»Scheiße«, murmelte sie und fuhr mit
Weitere Kostenlose Bücher