11 - Nie sollst Du vergessen
Vollgas zum Haus. Um Dampf abzulassen, ließ sie die Maschine ein paar Mal aufheulen, ehe sie sie abschaltete. Robson zeigte sich normalerweise nicht um diese Tageszeit am Chalcot Square; dass er ausgerechnet jetzt hier war - und zweifellos Gideon einen Vortrag darüber hielt, was er zu tun habe, nämlich das, was der gute Rafe wollte -, konnte einen echt abtörnen, noch dazu, wenn man vorher gerade Rock, das Ekel, genossen hatte.
Ungestüm stieß sie das schmiedeeiserne Tor auf, ohne zu verhindern, dass es krachend gegen die unterste Stufe der Vortreppe schlug. Sie stürmte nach unten in ihre Wohnung, wo sie schnurgerade auf den Kühlschrank zuhielt.
Sie hatte sich bisher tapfer an die Kein-Weiß-Diät gehalten, aber jetzt lechzte sie trotz Stepptanz nach irgendeinem bleichen Dickmacher-Vanilleeis, Popcorn, Reis, Käse. Sie befürchtete auszuflippen, wenn sie nicht sofort irgendwas bekäme.
Doch in weiser Voraussicht hatte sie ihren Kühlschrank schon vor Monaten für einen ebensolchen Moment ausgerüstet. Ehe sie seine Tür öffnen konnte, musste sie, ob sie wollte oder nicht, einem Foto von sich selbst ins Auge blicken, das sie im Alter von sechzehn Jahren zeigte - einen Fettmops im einteiligen Badeanzug - und daneben ihre gertenschlanke Schwester im Bikini und natürlich knackebraun. Libby hatte Alis Gesicht mit einem Aufkleber - eine Spinne mit Cowboyhut - verdeckt. Aber jetzt schälte sie den Aufkleber ab und musterte ihre Schwester lange und ausgiebig. Dann las sie als zusätzlichen Anreiz den Spruch, den sie sich selbst auf die Kühlschranktür geschrieben hatte: Pack's dir doch gleich auf die Hüften!
Mit einem tiefen Seufzer trat sie zurück, und da hörte sie plötzlich von oben die Geige. Einen Moment hielt sie inne. »O Mann! Er spielt!«, rief sie voll freudiger Erregung. Vielleicht war Gideon seine Probleme jetzt endlich los!
Mann, war das cool! Er würde bestimmt ausflippen vor Freude. Das musste Gideon sein, der da oben spielte. So gemein konnte Robson nicht sein, Gid damit zu quälen, dass er vor ihm Geige spielte.
Aber während sie noch über Gideon Davies' Rückkehr zur Musik frohlockte, setzte oben wuchtig das Orchester ein. Eine CD, dachte sie niedergeschlagen. Das war Rafes Methode, Gideon aufzumuntern: Hörst du, wie du mal gespielt hast, Gideon? Du hast es damals gekonnt. Du kannst es auch jetzt.
Warum, zum Teufel, ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe?, fragte sich Libby. Bildeten sie sich ein, er würde wieder zu spielen anfangen, wenn sie ihn nur richtig nervten? Ihr jedenfalls gingen sie mittlerweile ganz gewaltig auf die Nerven. »Verdammt noch mal«, knurrte sie zur Zimmerdecke hinauf, »er besteht doch nicht nur aus Musik.«
Sie ging aus der Küche zu ihrem eigenen kleinen CD-Player und wählte eine Platte, die Raphael Robson garantiert die Wände hochjagen würde. Teenyrock in Potenz, volle Dröhnung. Sie öffnete auch noch die Fenster, und prompt wurde von oben geklopft. Sie drehte die Musik auf höchste Lautstärke. Zeit für ein gemütliches Bad. Es gab nichts Besseres als donnernden Teenyrock, wenn man Lust hatte, sich im warmen Schaumbad zu aalen und lauthals zu singen.
Dreißig Minuten später schaltete sie, frisch gebadet und gekleidet, den CD-Player aus und lauschte nach oben. Stille. Sie hatte erreicht, was sie wollte.
Sie ging aus der Wohnung und ein paar Stufen die Treppe hinauf, um zur Straße zu sehen und feststellen zu können, ob Rafes Wagen noch da war. Der Renault war weg. Vielleicht war Gideon jetzt für den Besuch einer Freundin empfänglich, der Gideon, der Mensch, wichtiger war als Gideon, der Musiker. Sie stieg die Vortreppe hinauf zu seiner Wohnung und klopfte kräftig an die Tür.
Als sich nichts rührte, blickte sie noch einmal zum Platz hinaus und suchte Gideons Mitsubishi. Er stand nicht weit entfernt am Bordstein geparkt. Stirnrunzelnd klopfte sie ein zweites Mal und rief: »Gideon? Bist du da? Ich bin's, Libby.«
Das brachte ihn endlich auf die Beine. Der Innenriegel wurde zurückgeschoben, die Tür ging auf.
»Entschuldige«, sagte Libby, »wegen der Musik, meine ich. Ich hab irgendwie nicht aufgepasst -« Sie brach ab. Er sah schlecht aus; schlechter noch als in den letzten Wochen. Richtig elend. Libby war sofort überzeugt davon, dass Robson ihn fertig gemacht hatte, indem er ihn gezwungen hatte, sich seine eigenen Plattenaufnahmen anzuhören.
»Und wo ist der gute alte Rafe?«, erkundigte sie sich. »Schon bei Daddy, um Bericht zu
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