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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Sonia?«
    Er beobachtete mich, und ich sah, wie sich sein Gesicht verschloss und jenen Ausdruck bekam, der mir immer schon eine Landschaft gespiegelt hat, die nichts anderes war als Eis, kalter Wind und endloser trüber Himmel. »Das ist deiner unwürdig«, sagte er. »Ich denke, du weißt genau, wovon ich spreche.«
    »Aber niemals auch nur ihren Namen auszusprechen! Nicht ein Mal in all den Jahren. Niemals die Worte ›deine Schwester‹ zu sagen ...«
    »Meinst du, damit wäre irgendetwas gewonnen gewesen? Hätte es dir in irgendeiner Weise genützt, wenn Sonias Ermordung ein Thema unseres Alltags gewesen wäre?«
    »Ich verstehe ganz einfach nicht -«
    Er trank den letzten Rest seines Espressos und stellte die Tasse neben seinen Stuhl auf den Boden. Sein Gesicht war so grau wie sein Haar, das er zurückgebürstet trägt wie ich und das den gleichen Ansatz hat wie meines, zur Mitte der Stirn spitz zulaufend, mit tiefen Geheimratsecken an den Seiten.
    »Deine Schwester ist in der Badewanne ertränkt worden«, sagte er, »von einer Deutschen, die wir bei uns aufgenommen hatten -«
    »Ich weiß -«
    »Nein! Gar nichts weißt du. Du weißt vielleicht, was die Zeitungen berichtet haben, aber du weißt nicht, wie es wirklich war. Du weißt nicht, dass Sonia ermordet wurde, weil es immer schwieriger wurde, sie zu versorgen, und weil die Deutsche -«
    Katja Wolff. Warum will er ihren Namen nicht aussprechen?
    »- schwanger war.«
    Schwanger. Das Wort wirkte wie ein Fingerschnalzen direkt vor meiner Nase. Es riss mich zurück in die Welt meines Vaters, erinnerte mich wieder daran, was er durchgemacht hatte und was er jetzt in dieser Situation von neuem durchmachen musste. Ich dachte an die Fotografie, auf der Katja Wolff mit Sonia auf dem Arm im Garten des Hauses am Kensington Square saß und träumerisch in die Kamera lächelte. Ich dachte an das Bild, das sie zeigte, wie sie abgemagert und krank aussehend, mit harten Gesichtszügen, das Polizeirevier verließ. Schwanger.
    »Auf dem Foto hat man ihr das aber nicht angesehen«, murmelte ich und blickte von meinem Vater weg zu einem der anderen Balkone, wo ein Altenglischer Schäferhund uns neugierig beäugte. Als er sah, dass ich ihn bemerkt hatte, stellte er sich auf die Hinterbeine, die Vorderpfoten auf das Balkongeländer gestützt, und begann zu bellen. Es war ein schreckliches Geräusch. Man hatte ihm die Stimmbänder entfernen lassen. Was blieb, war ein hoffnungsvolles, aber jämmerliches Jaulen, nichts als Luft und Muskeln und vor allem Grausamkeit.
    »Auf was für einem Foto?«, fragte mein Vater, und dann begriff er wohl, dass ich von einem Foto sprach, das ich in der Zeitung gesehen hatte, denn er fügte hinzu: »Nein, natürlich sah man es ihr nicht an. Es ging ihr zu Beginn der Schwangerschaft sehr schlecht, sie hat kein Gramm zugenommen, sondern ist immer dünner geworden. Als uns auffiel, dass es ihr nicht gut ging und sie kaum noch aß, glaubten wir zunächst, es wäre Liebeskummer. Sie und der Untermieter -«
    »Das muss James gewesen sein.«
    »Richtig. James. Sie waren befreundet. Offensichtlich viel enger, als wir ahnten. Er lernte mit ihr Englisch, wenn sie freihatte. Dagegen hatten wir nichts einzuwenden. Bis sie schwanger wurde.«
    »Und dann?«
    »Wir haben ihr gekündigt. Wir führten schließlich kein Heim für ledige Mütter, und wir brauchten jemanden, der sich um Sonia kümmern konnte und nicht ausschließlich mit sich selbst beschäftigt war - dem eigenen Unwohlsein, den eigenen Schwierigkeiten, der Schwangerschaft. Wir haben sie nicht auf die Straße gesetzt, wir haben sie auch nicht fristlos entlassen. Aber wir sagten ihr natürlich, dass sie sich eine andere Stellung suchen müsse, und da geriet sie völlig außer sich, weil es die Trennung von James bedeutete.«
    »Wie hat sich das denn geäußert?«
    »Tränen, Wut, Hysterie. Sie war restlos überfordert, von der Schwangerschaft und dem andauernden Unwohlsein, von der Notwendigkeit, sich eine neue Bleibe suchen zu müssen, und natürlich von den Ansprüchen, die deine Schwester an sie stellte. Sonia war damals gerade aus dem Krankenhaus wieder nach Hause gekommen und brauchte ständige Betreuung. Die Deutsche drehte durch.«
    »Ich erinnere mich.«
    »Woran?« Ich hörte das Widerstreben hinter der Frage, Ausdruck des Konflikts zwischen dem Wunsch meines Vaters, diese quälenden Erinnerungen wieder zu verdrängen, und seinem Bestreben, den Sohn, den er liebte, aus dessen innerer

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