11 - Nie sollst Du vergessen
Ja, da hast du wohl Recht. Ich ignoriere alles Unerfreuliche, um mich im Alltagsgeschäft des Lebens nicht stören zu lassen.«
Ich ging auf die Anspielung, die in seinen Worten steckte, nicht ein, sondern sagte langsam, als spräche ich mit jemandem, der kaum Englisch verstand: »Erinnerst du dich an Cresswell-White?«
Seufzend trat er vom Fenster weg und ging ins Musikzimmer. Ich folgte ihm. Er setzte sich vor der Stereoanlage und den CD-Ständern nieder. Ich blieb an der Tür stehen.
»Was willst du wissen?«, fragte er.
Ich nahm die Frage als Bestätigung und sagte: »Ich erinnerte mich plötzlich, Katja eines Abends im Garten gesehen zu haben. Es war dunkel. Sie war dort mit einem Mann. Die beiden -« Ich zuckte die Achseln, spürte die Hitze in meinem Gesicht, war mir bewusst, wie kindisch diese Reaktion war, ohne etwas dagegen tun zu können. »Sie waren zusammen. Intim. Ich weiß nicht mehr, wer er war. Ich glaube, ich konnte ihn nicht richtig erkennen.«
»Was soll das?«
»Das weißt du doch. Wir haben das alles besprochen. Du weißt, was sie - Dr. Rose - von mir erwartet.«
»Ach, und diese besondere Erinnerung, soll die etwa in irgendeiner Weise mit deiner Fähigkeit zu musizieren zu tun haben?«
»Ich versuche einfach, mir so viel wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Gleichgültig, in welcher Chronologie. Wann immer es geht. Eine Erinnerung scheint den nächsten Anstoß zu geben, und wenn ich ausreichend viele von ihnen miteinander verknüpfe, gelingt es mir vielleicht, die Ursache meiner Schwierigkeiten zu spielen zu entdecken.«
»Schwierigkeiten zu spielen? Du spielst doch überhaupt nicht.«
»Warum antwortest du mir nicht einfach? Warum hilfst du mir nicht? Sag mir nur, mit wem Katja -«
»Du glaubst, dass ich das weiß?«, fragte er scharf. »Oder fragst du in Wirklichkeit, ob ich der Mann bin, der mit Katja Wolff im Garten war? Meine Beziehung zu Jill weist ja eindeutig auf eine Vorliebe für jüngere Frauen hin, nicht wahr? Und wenn ich diese Vorliebe jetzt habe, warum nicht auch schon damals?«
»Wirst du mir nun antworten?«
»Ich darf dir versichern, dass diese besondere Vorliebe von mir neueren Datums ist und sich einzig auf Jill bezieht.«
»Du warst also nicht der Mann im Garten. Der Mann, der mit Katja Wolff zusammen war.«
»Nein.«
Ich musterte ihn aufmerksam. Sagte er die Wahrheit? Ich musste an das Foto von Katja und meiner Schwester denken, an das Lächeln, mit dem Katja die Person angesehen hatte, die die Aufnahme gemacht hatte, und ich fragte mich, was dieses Lächeln zu bedeuten gehabt hatte.
Mit einer müden Geste zu den CD-Ständern neben seinem Sessel deutend, sagte er: »Ich habe mir deine CDs angesehen, während ich auf dich gewartet habe, Gideon.«
Ich schwieg, misstrauisch über den unvermittelten Themawechsel.
»Du hast eine beachtliche Sammlung. Wie viele sind das? Dreihundert? Vierhundert?«
Ich sagte noch immer nichts.
»Eine Anzahl von Stücken mehrfach, von verschiedenen Musikern interpretiert.«
»Du willst doch sicher auf etwas Bestimmtes hinaus«, sagte ich endlich.
»Aber du hast nicht eine Aufnahme des Erherzog-Trios. Wie kommt das? Das interessiert mich wirklich.«
»Ich habe dieses Stück nie geliebt.«
»Warum wolltest du es dann in der Wigmore Hall spielen?«
»Beth hatte den Vorschlag gemacht. Und Sherill fand ihn gut. Ich hatte eigentlich nichts dagegen -«
»- ein Stück zu spielen, das du nicht liebst?«, fiel er mir ins Wort. »Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht? Den Namen hast doch du, Gideon, nicht Beth und nicht Sherill. Du bestimmst das Programm eines Konzerts, nicht sie.«
»Ich will jetzt nicht über das Konzert sprechen.«
»Das weiß ich. O ja, das weiß ich nur zu gut. Du hattest von Anfang an keine Lust, über das Konzert zu sprechen. Tatsache ist, dass du nur zu dieser verwünschten Psychiaterin gehst, weil du nicht über das Konzert sprechen willst.«
»Das stimmt nicht.«
»Joanne wurde heute aus Philadelphia angerufen. Die wollten wissen, ob du dein Engagement dort einhalten kannst. Die Gerüchte sind mittlerweile bis nach Amerika gedrungen, Gideon. Was meinst du, wie lange du dir die Welt noch vom Leib halten kannst?«
»Ich bemühe mich, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Und ich weiß keinen anderen Weg.«
»›Ich bemühe mich, dieser Sache auf den Grund zu gehen‹«, spottete er. »Soll ich dir sagen, was du tust? Du gehst den Weg der Feigheit, sonst nichts, und das hätte ich wahrhaftig
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