11 - Nie sollst Du vergessen
entlassen, weil sie es nicht sagen wollte, damit das klar ist. Das war nicht das Entscheidende. Wir haben sie entlassen, weil sie nicht fähig war, sich angemessen um deine Schwester zu kümmern. Im Übrigen gab es auch noch andere Probleme, die wir bisher übersehen hatten, weil sie Sonia gern zu haben schien und wir darüber froh waren.«
»Was für Probleme?«
»Nun, ihre Kleidung zum Beispiel, die immer unpassend war. Wir hatten sie gebeten, entweder Tracht zu tragen oder einfach Rock und Bluse. Aber es fiel ihr nicht ein, sich nach unseren Wünschen zu richten. Die Kleidung sei Ausdruck ihrer Persönlichkeit, erklärte sie uns. Dann ihre Bekannten! Sie besuchten sie zu allen Tages- und Nachtzeiten, obwohl wir sie gebeten hatten, die Besuche einzuschränken.«
»Was waren das für Leute?«
»Ich kann mich nicht an sie erinnern. Guter Gott, das ist mehr als zwanzig Jahre her.«
»Katie?«
»Wie bitte?«
»Eine Frau namens Katie? Sie war dick und trug teure Klamotten. Ich erinnere mich an sie.«
»Vielleicht war eine Katie dabei. Ich weiß es nicht. Sie kamen aus dem Kloster, saßen in der Küche herum, tranken Kaffee, rauchten und schwatzten. Und wenn Katja an ihren freien Abenden mit ihnen ausging, kam sie mehr als einmal angetrunken nach Hause und verschlief am nächsten Morgen. Mit anderen Worten, es gab bereits Probleme mit ihr, bevor ihre Schwangerschaft alles durcheinander brachte, Gideon. Die Schwangerschaft - und das Unwohlsein - war lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«
»Aber du und Mutter habt mit Katja gestritten, als ihr sie gefeuert habt.«
Er stand auf und ging quer durch das Zimmer, wo er stehen blieb und zu meinem Geigenkasten hinuntersah. Ich hatte ihn seit Tagen nicht mehr geöffnet, weil ich mich nicht vom Anblick der Guarneri quälen lassen wollte.
»Sie wollte die Anstellung natürlich behalten. Sie war schwanger und konnte nicht damit rechnen, dass sie so schnell etwas anderes finden würde. Darum fing sie an, mit uns zu debattieren. Sie wollte, dass wir sie behalten.«
»Warum hat sie nicht abgetrieben? Auch damals gab es schon Ärzte - Kliniken ...«
»Das war für sie keine Alternative. Warum, kann ich dir nicht sagen.«
Er kauerte nieder und öffnete die Metallschließen des Geigenkastens. Er klappte den Deckel auf. Die Guarneri schimmerte im Licht, und der goldene Glanz des Holzes schien mir wie eine Anklage, auf die ich nichts zu entgegnen hatte. »Es kam zum Streit. Zu einem Streit zwischen uns dreien. Und als Sonia das nächste Mal Schwierigkeiten machte - am folgenden Tag -, da erledigte Katja das Problem ein für alle Mal.« Er hob die Geige aus dem Kasten und nahm den Bogen aus seiner Halterung. »Jetzt weißt du die Wahrheit«, sagte er. Seine Stimme war nicht unfreundlich, und die Augen waren stärker gerötet als zuvor. »Spielst du für mich, mein Junge?«
Ich hätte es wirklich gern getan, Dr. Rose. Aber ich wusste, dass in mir nichts war, nichts von dem, was früher die Musik aus meiner Seele durch meinen Körper in meine Arme und Finger getrieben hat. Das ist mein Fluch, auch jetzt noch.
Ich sagte: »Ich erinnere mich an Menschen im Haus in der Nacht, als - als Sonia ... Ich erinnere mich an die Stimmen und Schritte vieler Menschen und dass Mutter nach dir rief.«
»Wir waren in Panik. Alle. Es waren Sanitäter da. Feuerwehrleute. Deine Großeltern. Pitchford. Raphael.«
»Raphael war auch da?«
»Ja.«
»Wieso? Was hatte er bei uns zu tun?«
»Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht telefonierte er mit der Juilliard School. Er versuchte seit Monaten, uns davon zu überzeugen, dass es für dich irgendwie möglich sein müsste, dort Unterricht zu bekommen. Er war ganz versessen darauf, mehr noch als du.«
»Das passierte also alles zu der Zeit, als ich die Einladung nach New York bekam?«
Mein Vater, der mir die ganze Zeit die Guarneri dargeboten hatte, ließ die Arme sinken. Die Geige hing in der einen Hand, der Bogen in der anderen, beide verwaist wegen meines Versagens.
»Wohin führt uns das, Gideon?«, sagte er. »Was, zum Teufel, hat das alles mit deinem Spiel zu tun? Ich bemühe mich weiß Gott, dir zu helfen, aber du gibst mir absolut keine Möglichkeit, mir ein Urteil zu bilden.«
»Ein Urteil worüber?«
»Woher soll ich wissen, ob es Fortschritte gibt? Woher weißt du es?«
Darauf konnte ich nicht antworten, Dr. Rose. Denn die Wahrheit ist das, was er fürchtet und wovor ich Angst habe: Ich kann nicht erkennen, ob
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