11 - Nie sollst Du vergessen
beantworten. Ich weiß die Antwort nicht. Es ist mir auch egal. Und -« Er nahm die Noten zur Hand, die ich auf dem Ständer zurückgelassen hatte, als ich mir vorgenommen hatte, zu spielen. Er klappte langsam das Heft zu, als beendete er etwas, das keiner von uns beiden beim Namen nennen wollte. »Ich verstehe einfach nicht, warum du auf dieser Geschichte herumreiten musst. Hat Katja Wolff nicht genug Zerstörung in unser aller Leben angerichtet?«
»Es geht nicht um Katja Wolff«, entgegnete ich. »Es geht darum, was geschehen ist.«
»Du weißt, was geschehen ist.«
»Ich weiß nicht alles.«
»Aber genug.«
»Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, wenn ich über es schreibe oder spreche, kann ich mich nur an die Zeiten genau erinnern, die mit der Musik zu tun haben: Wie ich zur Musik kam, wie ich diesen Weg weiterging, mit was für Übungen Raphael mich schulte, die Konzerte, die ich gab, die Orchester, mit denen ich gespielt habe, Dirigenten, Konzertmeister, Journalisten, die mich interviewten. Plattenaufnahmen, die ich gemacht habe.«
»Das ist dein Leben. Das macht deine Persönlichkeit aus.«
Libby war da anderer Meinung. Ich hatte ihre zornige Stimme noch im Ohr. Ich spürte ihre Frustration. Ich hätte in ihrer wütenden Verzweiflung ertrinken können.
Man hat mir die Wurzeln abgeschnitten, Dr. Rose. Ich bin plötzlich ein Heimatloser. Einst lebte ich in einer Welt, die ich kannte und in der ich mich zu Hause fühlte, in einer Welt mit klaren Grenzen, von Menschen bevölkert, die eine Sprache sprachen, die ich verstand. Diese Welt ist mir entfremdet, aber ebenso fremd ist mir das Land, das ich jetzt durchschreite, ohne Führer und ohne Karte, nur Ihren Anweisungen folgend.
11
Yasmin Edwards hatte an diesem Morgen eine Menge zu tun und war froh darüber. Ein Frauenhaus in Lambeth hatte ihr sechs neue Kundinnen geschickt, die alle zu gleicher Zeit in ihren Laden gekommen waren. Keine von ihnen brauchte eine Perücke - die wurden meistens von Frauen verlangt, die sich einer Chemotherapie unterziehen mussten oder an krankhaftem Haarausfall litten -, aber alle wünschten sie ein neues Make-up und neue Frisuren, um ihren Typ zu verändern, und Yasmin half ihnen gern. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie einem, von einem Mann missbraucht und erniedrigt, zu Mute war, und es überraschte sie nicht, dass die Frauen zunächst sehr zurückhaltend waren und nur leise und zaghaft von ihrem Aussehen sprachen und den Veränderungen, die sie sich von Yasmin Edwards' Künsten erhofften. Yasmin ging deshalb sehr behutsam mit ihnen um und ließ sie, nachdem sie sie mit Zeitschriften versorgt hatte, bei Kaffee und Keksen selbst entscheiden.
»Können Sie machen, dass ich wie die da ausschau?« Das war die Frage, die das Eis brach. Eine der Frauen - gut zwei Zentner schwer und weit über sechzig - hatte das Bild eines attraktiven schwarzen Models mit üppigem Busen und aufgeworfenem Schmollmund gewählt.
»Wenn du nachher so ausschaust, Mädchen, geh ich aus diesem gottverdammten Laden nie wieder raus«, sagte eine der anderen, und alle lachten schallend.
Danach lief alles problemlos.
Merkwürdigerweise erinnerte der Geruch der Reinigungsflüssigkeit, mit der sie die Arbeitstische sauber machte, nachdem die Frauen gegangen waren, sie plötzlich an den Morgen. Sie fragte sich flüchtig, warum, als ihr einfiel, dass sie gerade dabei gewesen war, die Badewanne zu säubern, in der von Davids Perückenwäsche am vergangenen Abend noch ein paar Haare hingen, als Katja ins Bad kam, um sich die Zähne zu putzen.
»Gehst du heute in die Arbeit?«, fragte Yasmin. Daniel war schon zur Schule gegangen. Sie konnten zum ersten Mal offen miteinander reden. Oder es wenigstens versuchen.
»Klar«, antwortete Katja. »Wieso sollte ich nicht?«
Sie sprach das englische »W« immer noch nach deutscher Art wie ein stimmhaftes »V« aus; dabei, dachte Yasmin manchmal, hätten zwanzig Jahre in englischer Umgebung eigentlich reichen müssen, um Katja selbst die hartnäckigsten Sprachgewohnheiten auszutreiben. Ihr Akzent hatte Yasmin immer gefallen, aber jetzt war das vorbei. Sie hätte nicht sagen können, wann diese Eigenart für sie den Charme verloren hatte. Lange war es noch nicht her. Aber auf den Tag genau konnte sie es nicht sagen.
»Er hat behauptet, du hättest blaugemacht. Viermal bereits.«
Im Spiegel über dem Waschbecken fixierte Katja mit ihren blauen Augen die Freundin. »Und das glaubst du, Yas? Er ist Bulle, und du
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