11 - Nie sollst Du vergessen
trennte.
»Halt, alle beide!«, brüllte Barbara ihnen aus Leibeskräften nach.
Es waren zwei Riesenkerle in verdreckten Blue Jeans und schlammverkrusteten Stiefeln. Einer hatte eine lederne Bomberjacke an. Der andere trug trotz der Kälte nur einen Pullover.
Beide drehten die Köpfe, als sie Barbaras Donnerstimme vernahmen. Der im Pullover grinste und salutierte frech. Der in der Bomberjacke schrie: »Schnapp sie dir, Jay«, und beide rutschten vor Lachen aus, rappelten sich wieder hoch und rannten durch den Park davon.
»Mist!« Barbara trat vom Fenster weg.
Pitchley hatte mittlerweile seinen Anwalt erreicht. »Kommen Sie sofort her«, herrschte er ihn an. »Ich schwör's Ihnen, Azoff, wenn Sie nicht binnen zehn Minuten hier sind -«
Barbara riss ihm den Hörer aus der Hand.
»Sie unverschämte -« schimpfte er.
»Nehmen Sie 'ne Beruhigungstablette, Pitchley«, riet Barbara und sagte ins Telefon: »Die Fahrt können Sie sich sparen, Mr. Azoff. Ich gehe sowieso. Ich habe, was ich brauche.« Ohne auf eine Erwiderung des Anwalts zu warten, gab sie Pitchley den Hörer zurück. »Ich weiß nicht, was hier los ist, Sie Schlaumeier, aber ich krieg's raus, verlassen Sie sich drauf. Und dann komme ich mit einem Durchsuchungsbeschluss wieder und nehme die Bude hier auseinander. Wenn wir irgendwas finden, das beweist, dass es zwischen Ihnen und Eugenie Davies eine Verbindung gab, Verehrtester, sind Sie erledigt. Ist das klar?«
»Ich hatte mit Eugenie Davies lediglich in dem Rahmen zu tun, wie ich es Chief Inspector Leach bereits erklärt habe«, entgegnete er förmlich. Aber er war blass geworden.
»Dann ist es ja gut«, sagte sie. »Also dann, Mr. Pitchley, hoffen Sie das Beste.«
Sie marschierte aus der Küche hinaus zur Haustür und setzte sich draußen sofort in ihren Wagen. Es wäre sinnlos gewesen, die beiden Kerle verfolgen zu wollen, die durch Pitchleys Küchenfenster geflohen waren. Bis sie sich auf die andere Seite des Parks durchgearbeitet hätte, wären die beiden längst weg oder hätten sich ein gutes Versteck gesucht.
Barbara ließ den Mini an und trat ein paar Mal das Gaspedal durch, um Dampf abzulassen. Sie hatte vorgehabt, mit Pitchleys Foto noch einmal das Valley of Kings und das Comfort Inn aufzusuchen, aus reinem Pflichtbewusstsein und ohne Hoffnung, dass etwas dabei herauskommen würde. Ja, sie war nahe daran gewesen, J. W. Pitchley alias James Pitchford alias Die Zunge von der Liste der Verdächtigen zu streichen. Aber jetzt sah die Sache anders aus. Der Mann hatte sich wirklich nicht benommen wie jemand, der ein reines Gewissen hat. Eher schon wie jemand, der bis zum Hals im Dreck steckte. Dazu der Scheck über dreitausend Pfund, der unfertig im Esszimmer gelegen hatte, und die beiden gorillamäßigen Kerle, die aus dem Küchenfenster gesprungen waren ... So sauber sah die Weste von Pitchley, Pitchford, Die Zunge, oder wer, zum Teufel, er sonst zu sein vorgab, nicht mehr aus.
Pitchley, Pitchford, Die Zunge, dachte Barbara, während sie den Mini rückwärts zur Straße hinausmanövrierte, und fragte sich, ob der Mann vielleicht noch einen weiteren Namen hatte, den er für besondere Zwecke verwendete.
Sie wusste, wie sie das herausfinden würde.
Das Haus von Eugenie Davies' Bruder, Ian Staines, stand in einer ruhigen Straße nicht weit von St. Ann's Well Gardens. Lynley, der die Schnellstraße gefahren war, hatte von Henley bis Brighton nicht allzu lange gebraucht, aber der kurze Novembertag begann schon zu dämmern, als er vor dem Haus anhielt.
Die Tür wurde ihm von einer Frau mit einer Katze auf dem Arm geöffnet. Sie hielt das Tier wie ein kleines Kind an die Schulter gedrückt. Es war eine Birmakatze, ein reinrassiges Tier mit arrogantem Gesichtsausdruck, das Lynley mit feindseligen blauen Augen musterte, als dieser seinen Dienstausweis herauszog. Die Frau war Eurasierin, eine auffallende Erscheinung, nicht mehr jung, eine verblühte Schönheit, von der man dennoch den Blick kaum abwenden konnte, da unter der welken Haut eine subtile Härte zu erahnen war.
Sie warf einen Blick auf Lynleys Ausweis und sagte nur »Ja«, als er fragte, ob sie Mrs. Ian Staines sei. In aller Ruhe wartete sie auf weitere Erklärungen von ihm, obwohl sie, wie Lynley dem Blick der leicht verengten Augen entnahm, kaum Zweifel hatte, wem sein Besuch galt. Als er höflich fragte, ob er sie einen Moment sprechen könne, trat sie von der Tür zurück und führte ihn in ein äußerst spärlich eingerichtetes
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