11 - Nie sollst Du vergessen
früher nur in Grenzen gelebt, war von Drogen, Alkohol und Glücksspiel eingeschränkt. Wenn es nicht das eine war, dann war es das andere. Und dabei habe ich alles verloren - meine Frau, meine Kinder, mein Zuhause -, aber das wird mir nicht noch einmal passieren. Das schwöre ich. Der Überfluss wird kommen. Ich werde den Überfluss leben.«
Lynley bekam allmählich eine Vorstellung. Er sagte: »Es ist aber doch ziemlich riskant, an der Börse zu spekulieren, meinen Sie nicht auch, Mr. Staines? Man kann natürlich große Gewinne machen, aber man kann auch schwere Verluste erleiden.«
»Wo Vertrauen, richtiges Handeln und Glaube sind, da gibt es kein Risiko. Das richtige Denken bringt das Ergebnis hervor, das von Gott gewollt ist, der selbst das Gute ist und für seine Kinder das Gute will. Wenn wir eins mit ihm sind und Teil von ihm, sind wir Teil des Guten. Wir müssen es nur für uns erschließen.«
Er starrte beim Sprechen angespannt auf den Bildschirm, über dessen unteren Rand sich wie ein flimmerndes Fließband ständig ändernde Börsenkurse zogen. Staines schien hypnotisiert, als sähe er in den vorübereilenden Zahlen verschlüsselte Wegweiser zum Heiligen Gral.
»Aber lässt denn der Begriff des Guten nicht verschiedene Deutungen zu?«, fragte Lynley. »Und könnte es nicht sein, dass der Mensch in seinem Streben nach dem Guten in ganz anderen Zeitdimensionen denkt als Gott?«
»Es ist der Überfluss«, erklärte Staines mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir definieren ihn, und er kommt.«
»Und wenn nicht, stecken wir bis zum Hals in Schulden«, sagte Lynley.
Mit einer abrupten Bewegung beugte Staines sich vor und drückte auf einen Knopf am Computer. Der Bildschirm wurde dunkel, doch Staines behielt ihn unverwandt im Auge, während er in einem Ton weitersprach, der die Wut verriet, die er mühsam in Schach hielt. »Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich hatte sie völlig in Ruhe gelassen. Das letzte Mal hatten wir uns beim Begräbnis unserer Mutter getroffen, aber sogar da hab ich mich im Hintergrund gehalten, weil ich wusste, wenn ich mit ihr spräche, würde ich auch mit ihm sprechen müssen, und ich habe diesen Menschen gehasst. Von dem Tag an, als ich von zu Hause weglief, las ich täglich die Todesanzeigen, weil ich hoffte, irgendwann auf die seine zu stoßen und die Gewissheit zu erhalten, dass der große Gottesmann endlich aus diesem Leben geschieden war, das er allen um ihn herum zur Hölle gemacht hatte, und nun in seiner eigenen Hölle schmorte. Aber sie sind geblieben. Doug und Eugenie sind geblieben. Wie brave kleine Soldaten Gottes saßen sie sonntags in der Kirche und hörten seinen Predigten zu, und den Rest der Woche ließen sie sich mit dem Gürtel verprügeln. Aber ich bin durchgebrannt, als ich fünfzehn war, und nie zurückgekehrt.«
Er sah Lynley an. »Ich habe meine Schwester nie um irgendetwas gebeten. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren, als mich die Drogen, der Alkohol und das Spiel im Griff hatten. Ich sagte mir immer, sie ist die Jüngste, sie hat ausgehalten und hat die ganze schwarze Wut dieses Bastards zu spüren bekommen, sie hat es verdient, dass man ihr ihr Leben lässt. Und es spielte für mich keine Rolle, dass ich alles verlor - alles, was ich je besessen oder geliebt hatte -, denn sie war ja meine Schwester, und wir waren seine Opfer, und meine Zeit würde kommen. Ich habe mich an Doug gewandt, und er hat mir geholfen, wenn er konnte. Aber beim letzten Mal sagte er: ›Ich kann nicht, Ian. Sieh dir mein Scheckbuch an, wenn du mir nicht glaubst.‹ Was hätte ich also tun sollen?«
»Sie baten Ihre Schwester um Geld, um Ihre Schulden bezahlen zu können. Wie kam es zu den Schulden, Mr. Staines? Hatten Sie sich verspekuliert?«
Staines drehte sich vom Bildschirm weg, als wäre dessen Anblick ihm jetzt widerlich, und erklärte: »Wir haben verkauft, was möglich war. Wir haben nur noch ein Bett in unserem Zimmer. Wir essen in der Küche von einem Klapptisch. Das ganze Silber ist weg. Lydia hat ihren Schmuck verloren. Dabei hätte ich nur eine einzige vernünftige Chance gebraucht, nur eine! Mit ein bisschen Geld hätte sie mir diese Chance geben können, und sie hatte versprochen, mir unter die Arme zu greifen. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr alles zurückzahlen würde. Ihm, meine ich. Er schwimmt ja im Geld. Er hat Millionen. Garantiert.«
»Gideon. Ihr Neffe.«
»Ich hab mich darauf verlassen, dass sie mit ihm sprechen würde. Und dann
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