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Noch nicht mal alleinerziehend

Noch nicht mal alleinerziehend

Titel: Noch nicht mal alleinerziehend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dunja M Pechner
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S ie griff ihre Jacke und eilte zur Tür, während sie eigentlich noch damit beschäftigt war, auch den rechten Lammfellstiefel anzuziehen.
    »Mmmmann«, motzte sie, bevor sie das Gleichgewicht verlor und mit voller Wucht gegen die Wand kippte.
    »Autsch! Autsch! Autsch! Sch … Autsch!« Nora rieb sich ihren linken Ellenbogen und die Schulter. Am liebsten würde sie jetzt heulend einfach hier auf dem Fußboden hocken bleiben. Aber dafür war keine Zeit. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie eigentlich in vier Minuten bei ihren Eltern sein müsste, um pünktlich zum Essen zu erscheinen. Also rappelte sie sich auf, rannte die Treppe hinunter, raus auf die Straße und zu ihrem Auto. Sie schmiss ihre Sachen auf den Beifahrersitz, sprang hinters Lenkrad und drehte den Zündschlüssel. Zögerlich tuckernd meldete sich der Motor ihres blauen Mini, Baujahr 1985.
    »Na komm schon, Hase. Lass mich nicht hängen. Nicht jetzt«, sagte sie beschwörend und streichelte über das Lenkrad. Der Mini antwortete nach einer kurzen Phase des Warmwerdens mit dem vertrauten Motorengeräusch. Mittlerweile war es 13 Uhr – jetzt ging es nur noch darum, mit wie viel Verspätung sie ihr Elternhaus in Bergisch Gladbach, 25 km östlich von Köln, erreichen würde.
    Jede Woche derselbe Stress, dachte sie verärgert. Warum konnte sie nicht einmal pünktlich aufstehen und in Ruhe das Haus verlassen?, fragte sie sich, als sie auf die Autobahn fuhr. Vielleicht hätte es geholfen, wenn sie mehr als vier Stunden geschlafen hätte. Wenn sie vergangene Nacht um vier nach Hause gegangen wäre, anstatt vorzuschlagen, noch weiterzuziehen und die Nacht erst beim Frühstück in den Markthallen ausklingen zu lassen. Nora grinste. Blödsinn! Das hätte sie heute noch viel mehr bereut. Um nichts in der Welt hätte sie auch nur eine Sekunde dieser Nacht versäumen wollen.
    Der Samstag gehörte in Noras Familie der Familie. Das war ein ungeschriebenes Gesetz und hatte Tradition bei den Leinenmachers. So wie Geburtstage, Namenstage, Hochzeitstage, Weihnachten und Ostern! Der Samstag war ihnen allen heilig! Um 13 Uhr traf sich die ganze Familie bei Noras Eltern zum Mittagessen. Noras älterer Bruder Johann erschien pünktlich mit seiner Frau Karin und den beiden Kindern Marc, acht Jahre alt, und Mina, sechs. Ebenso pünktlich war Noras kleine Schwester Sophie samt Charles, ihrem irischen Mann, und Jules, dem zweijährigen Sohn. Nora stieß erfahrungsgemäß immer zu spät dazu – auch das hatte Tradition. Und egal, was Nora auch versuchte, es schien eine für sie unlösbare Aufgabe, samstags wenigstens einmal – wie alle anderen auch – um eins zu erscheinen. Diesmal parkte sie ihren Wagen mit 30-minütiger Verspätung vor ihrem Elternhaus.
    Augenblicklich flogen die Gardinen am Küchenfenster des Fachwerkhauses zur Seite, und Noras Mutter tippte mit strengem Gesicht mahnend auf ihre Armbanduhr. Im selben Moment öffnete sich die Haustüre und offenbarte ihren vorwurfsvoll dreinschauenden Vater. Nora atmete tief durch. Ausreden waren heute zwecklos: Sie trug kein Make-up, und die letzte Nacht hatte tiefe Spuren hinterlassen. Sie sah aus wie eine »Sumpfeule«. So bezeichnete ihre Mutter Nora immer dann, wenn rote, kleine Augen, untermalt von dunklen Augenringen, in einem verquollenen, übermüdeten, leicht grauen Gesicht darauf hindeuteten, dass ihr mittleres Kind sich mal wieder »in der Nacht verloren« hatte. Noras dunkelblonde Locken waren außerdem noch nass. Ein klares Zeichen dafür, dass sie es erst in letzter Minute geschafft hatte, noch schnell unter die Dusche zu springen. Kurz: Ihr ganzer Zustand lieferte eine Armee von sicheren Indizien für die Sumpfeulen-Theorie.
    »Kind«, rief ihr Vater, als sie, bepackt mir ihren Sachen, umständlich aus dem Auto kletterte. »Wann kaufst du dir endlich ein richtiges Auto?! Ich denke jedes Mal, du kommst mit dem Trecker vorgefahren!«
    »Papa, ich freue mich auch, dich zu sehen«, entgegnete sie und schloss das Gartentor ordnungsgemäß hinter sich.
    »Nun komm schon! Du bist spät! Das Essen wird kalt!«
    An der Haustür umarmte sie ihren Vater und drückte ihm einen Kuss auf den Mund, ehe sie fragte: »Bin ich etwa die Letzte?« Eine rein rhetorische Frage. Natürlich.
    Ihr Vater lachte – irgendwo zwischen verärgert und amüsiert. »Jetzt komm erst mal rein!« Im Flur nahm er ihr Jacke und Tasche ab und geleitete sie linker Hand ins Esszimmer – als wäre sie noch nie hier gewesen. Das machte er immer

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