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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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ausprobieren wollte. Ich hatte mir ein, wie ich meinte, tolles aerodynamisches Design einfallen lassen, durch das der Drachen auf Rekordhöhe steigen würde.
    Oben auf dem Primrose Hill gibt es nichts, was den Flug eines Drachen behindern könnte. Die Bäume sind weit weg, die einzigen Bauten, die einem fliegenden Geschöpf oder Gerät in den Weg kommen könnten, sind die Häuser, die jenseits der Hügelkuppe stehen, auf der anderen Seite der Straßen, die an den Park angrenzen. Da der Wind an diesem Tag gut war, glaubte ich, dass der Drachen sich in die Lüfte erheben würde, sobald ich ihn freigäbe.
    Aber so war es nicht. Jedes Mal, wenn ich ihn losließ und ihm in schnellem Lauf Leine zu geben begann, sprang und hüpfte er im Wind und stürzte dann ab wie eine Rakete. Immer wieder versuchte ich es, nachdem ich Veränderungen an der Vorderkante, den Seitenrudern, sogar dem Leitwerk vorgenommen hatte, aber nichts half. Schließlich brach ein Spanten, und ich musste das ganze Unternehmen aufgeben.
    Ich ging mit meinem Drachen die Chalcot Crescent hinunter, als ich Libby traf. Sie lief in die Richtung, aus der ich kam. In der einen Hand hatte sie eine Plastiktüte vom Drogeriemarkt, in der anderen eine Dose Cola light. Ein Picknick, vermutete ich. Aus der Tüte ragte ein Ende eines Baguette heraus.
    »Der Wind wird dir wahrscheinlich einen Strich durch die Rechnung machen, wenn du vorhast, da draußen zu essen«, bemerkte ich mit einem Nicken zum Park.
    »Ja, freut mich auch, dich zu sehen«, war ihre Antwort.
    Ihr Ton war höflich, aber ihr Lächeln flüchtig. Seit unserem unerfreulichen Zusammentreffen in ihrer Wohnung hatten wir uns nicht mehr gesehen. Ich hörte sie zwar kommen und gehen und hatte damit gerechnet, dass sie bei mir klingeln würde, aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte mir gefehlt, aber als ich begann, mich an jene Dinge zu erinnern, die erinnert werden mussten, an Sonia, an Katja, an meinen Anteil am Tod der einen und an der Verurteilung der anderen, erkannte ich, dass es besser war, Libby nicht zu sehen. Ich taugte keiner Frau zum Freund oder Geliebten. Ob Libby das merkte oder nicht, es war klug von ihr, sich von mir fern zu halten.
    »Ich habe versucht, den hier steigen zu lassen«, sagte ich und hob zur Erklärung meiner Bemerkung über den Wind den kaputten Drachen hoch. »Wenn du nicht hinaufgehst, sondern dein Picknick irgendwo unten machst, geht es vielleicht.«
    »Zu den Enten«, sagte sie.
    Einen Moment lang dachte ich, das wäre wieder so ein seltsamer kalifornischer Ausdruck, den ich nie gehört hatte. Aber dann sprach sie weiter.
    »Ich geh die Enten füttern. Im Regent's Park.«
    »Ach so. Ich dachte ... Na ja, als ich das Brot sah ...«
    »Und da du bei mir sowieso automatisch an Essen denkst. Klar. Ist ja logisch.«
    »Ich denke bei dir nicht automatisch an Essen, Libby.«
    »Okay«, sagte sie. »Dann nicht.«
    Ich nahm meinen Drachen von der linken Hand in die rechte. Ich mochte das Gefühl nicht, mit ihr uneins zu sein, aber ich hatte keine klare Vorstellung, wie ich die Kluft zwischen uns überbrücken sollte. Wir sind ja so verschieden, dachte ich. Vielleicht war es, genau wie Dad von Beginn an gesehen hat, immer schon eine absurde Verbindung: Libby Neal und Gideon Davies. Was hatten die beiden denn gemeinsam?
    »Ich hab Rafe bereits seit zwei Tagen nicht mehr gesehen«, bemerkte Libby mit einer Kopfbewegung zurück zum Chalcot Square. »Ich hab mich schon gefragt, ob ihm was passiert ist.«
    Mir wurde, als sie mir diese Möglichkeit zum Gespräch bot, bewusst, dass bei unseren Gesprächen immer sie diejenige war, die fragte und nachfragte. Und diese Erkenntnis veranlasste mich zu sagen: »Ja, es ist tatsächlich etwas passiert. Aber nicht ihm.«
    Sie sah mich ernst an. »Aber mit deinem Dad ist doch alles okay?«
    »Ja, ihm geht es gut.«
    »Und seiner Freundin?«
    »Jill? Ihr geht's auch gut. Allen geht es gut.«
    »Na, wunderbar.«
    Ich holte tief Luft. »Libby, ich werde meine Mutter treffen. Nach dieser langen, langen Zeit werde ich Sie tatsächlich sehen. Mein Vater hat mir erzählt, dass sie meinetwegen regelmäßig bei ihm anruft, und nun werden wir uns also treffen. Nur wir beide. Und dann werde ich vielleicht meinen Schwierigkeiten mit der Geige endlich auf den Grund kommen.«
    Sie schob ihre Coladose in die Plastiktüte und rieb sich mit der Hand über die Hüfte. »Das ist wahrscheinlich echt cool, Gid. Wenn's das ist, was man will. Ich mein, es ist ja wohl das,

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