11 - Nie sollst Du vergessen
das irgendwie verkehrt aussah.
»Sag so etwas nicht, Gideon«, entgegnete meine Mutter. »So etwas darfst du nie über deine Schwester sagen.«
»Aber sie hat so quallige Augen. Und einen komischen Mund.«
»Ich habe gesagt, du sollst nicht so von deiner Schwester sprechen.«
Das war der Anfang. Gespräche über Sonias Gebrechen wurden bei uns zum Tabu. Sie begann, unser aller Leben zu beherrschen, aber es wurde kein Wort über sie verloren. Sonia war quengelig. Sonia schrie die ganze Nacht. Sonia kam zwei oder drei Wochen ins Krankenhaus. Aber wir taten so, als wäre das Leben völlig normal, als wäre es in jeder Familie so, wenn ein Kind zur Welt kommt. Bis eines Tages Großvater die Glaswand der Verleugnung zertrümmerte, hinter der wir lebten.
»Die taugen doch beide nichts«, tobte er. »Keines von dir taugt was, Dick.«
Hat es da in meinem Kopf zu arbeiten begonnen? Habe ich da zum ersten Mal die Notwendigkeit verspürt, zu beweisen, dass ich anders bin als meine Schwester? Großvater hatte mich mit Sonia gleichgesetzt, aber ich würde ihm zeigen, dass die Wahrheit anders aussah.
Doch wie sollte ich das bewerkstelligen, wenn alles sich einzig um sie drehte? Um ihr Befinden, ihr Wachstum, ihre Gebrechen, ihre Entwicklung. Ein Weinen in der Nacht, und das ganze Haus war auf den Beinen, um sich um sie zu kümmern. Eine Veränderung ihrer Körpertemperatur, und das Leben stand still, bis der Arzt kam und die Ursache klärte. Die kleinste Änderung in ihren Essgewohnheiten, und Spezialisten wurden konsultiert. Sie war der Gegenstand jedes Gesprächs, gleichzeitig aber durfte die Ursache ihrer Krankheiten und Leiden niemals direkt angesprochen werden.
Das fiel mir wieder ein, Dr. Rose. Das alles fiel mir wieder ein, weil am Schürzenzipfel jeder Erinnerung an meine Mutter, die ich beim Nachdenken heraufbeschwören konnte, meine Schwester Sonia hing. Sie drängte sich so hartnäckig in mein Bewusstsein, wie sie sich in mein Leben gedrängt hatte. Und während ich auf den Tag wartete, an dem ich meine Mutter sehen würde, versuchte ich mit der gleichen wütenden Entschlossenheit, sie von mir abzuschütteln, wie ich es versucht hatte, als sie noch am Leben war.
Ja, ich weiß, was das heißt. Sie ist mir heute im Weg. Sie war mir damals im Weg. Ihretwegen hatte sich das Leben geändert. Ihretwegen sollte es sich noch entscheidender ändern.
»Du wirst in Zukunft zur Schule gehen, Gideon.«
Das muss der Moment gewesen sein, als der Keim gelegt wurde: der Keim der Enttäuschung, des Zorns, der vereitelten Träume, der zu einem wuchernden Geschwür wütenden Vorwurfs heranwuchs. Mein Vater war derjenige, der mir die Neuigkeit eröffnete.
Er kommt in mein Zimmer. Ich sitze am Tisch unter dem Fenster, wo Sarah-Jane Beckett und ich unsere Stunden zu halten pflegen. Ich mache gerade meine Aufgaben. Dad zieht sich den Stuhl heraus, auf dem gewöhnlich SarahJane sitzt, verschränkt die Arme und sieht mir zu.
Er sagt: »Wir haben es probiert, Gideon. Und du bist dabei aufgeblüht, nicht wahr, mein Sohn?«
Ich verstehe nicht, wovon er spricht, aber das, was ich in seiner Stimme vernehme, macht mich augenblicklich misstrauisch. Ich weiß jetzt, dass ich wahrscheinlich Resignation wahrnahm, doch in diesem Moment kann ich das, was er offenbar empfindet, nicht benennen.
Das ist der Augenblick, wo er mir sagt, dass ich in Zukunft zur Schule gehen werde, in eine öffentliche Schule, die er ausfindig gemacht hat, eine Tagesschule, nicht allzu weit entfernt.
Ich spreche aus, was mir als Erstes in den Sinn kommt. »Was ist mit meinem Geigenunterricht? Wann soll ich üben?«
»Das müssen wir regeln.«
»Aber was ist mit Sarah-Jane? Ihr gefällt es bestimmt nicht, wenn sie mir keinen Unterricht mehr geben darf.«
»Sie wird damit zurecht kommen müssen. Wir müssen uns von ihr trennen, mein Junge.«
Wir müssen uns von ihr trennen? Zuerst glaube ich, er will damit sagen, dass Sarah-Jane von uns weggehen will, dass sie darum gebeten hat, gehen zu dürfen, und er widerstrebend zugestimmt hat. Aber als ich darauf sage: »Dann rede ich mal mit ihr. Ich sage ihr, dass sie nicht weggehen darf«, erklärt er es mir.
»Wir können uns eine Hauslehrerin nicht mehr leisten, Gideon.« Den Rest sagt er nicht, ich ergänze ihn selbst in meinem Kopf. »Wir müssen irgendwo anfangen zu sparen«, teilt mein Vater mir mit. »Raphael wollen wir nicht gehen lassen, und Katja können wir nicht gehen lassen. Bleibt also nur
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