11 - Nie sollst Du vergessen
Sarah-Jane.«
»Aber wann soll ich denn Geige spielen, wenn ich zur Schule gehe? Die erlauben doch bestimmt nicht, dass ich nur zur Schule komme, wann ich will, oder, Dad? Da gibt es sicher Regeln. Wann soll ich da meine Stunden nehmen?«
»Wir haben schon mit der Schulleitung gesprochen. Sie sind bereit, Zugeständnisse zu machen. Sie kennen die Situation.«
»Aber ich will nicht zur Schule gehen. Ich will, dass Sarah-Jane mich weiter unterrichtet.«
»Das möchte ich auch gern«, sagt mein Vater. »Das möchten wir alle. Aber es ist nicht möglich, Gideon. Wir haben nicht die Mittel dazu.«
Wir haben nicht die Mittel - das Geld, die Mittel. War das nicht das Leitmotiv unseres Lebens? Wieso sollte ich also überrascht sein, als die Einladung von der Juilliard School of Music eintrifft und leider abgelehnt werden muss? Wäre es nicht logisch, ich gäbe dem Geld die Schuld daran, dass ich die Einladung an die Juilliard nicht annehmen darf?
Aber ich bin überrascht. Ich bin wütend. Ich bin außer mir. Und der einmal gelegte Keim treibt Wurzeln und Schösslinge und beginnt, auf fruchtbarem Boden zu wachsen.
Ich lerne hassen. Ich lerne Rachsucht. Ich brauche dringend ein Ziel für meine Rache. Ich finde es in ihr, in meiner Schwester, mit ihrem ewigen Weinen und Greinen und den unmenschlichen Forderungen, die sie an uns alle stellt.
In Gedanken an meine Mutter verweilte ich auch bei diesen anderen Überlegungen. Und bei ihrer Betrachtung drängte sich mir unausweichlich eine Schlussfolgerung auf: Selbst wenn mein Vater tatsächlich nichts unternommen hatte, um Sonia zu retten, wie er das hätte tun können, was änderte das? Ich hatte den Prozess des Tötens begonnen, und er hatte ihm nur seinen Lauf gelassen.
Sie sagen zu mir: Gideon, Sie waren doch noch ein kleiner Junge. Das war eine Geschwisterrivalität. Sie sind nicht der Erste, der versucht hat, einem jüngeren Geschwister etwas anzutun, und Sie werden nicht der Letzte sein.
Aber sie ist gestorben, Dr. Rose.
Ja, sie ist gestorben. Aber nicht von Ihrer Hand.
Das weiß ich nicht mit Sicherheit.
Im Moment wissen Sie nicht - können gar nicht wissen -, was wahr ist. Aber Sie werden es erfahren. Bald.
Sie haben Recht, Dr. Rose, wie meistens. Meine Mutter wird mir sagen, was wirklich geschehen ist. Wenn es für mich auf der Welt Erlösung gibt, wird sie sie mir bringen.
26
»Nicht mal einen Rollstuhl hat er genommen«, sagte die Stationsschwester der Notaufnahme. Auf ihrem Namensschildchen stand »Schwester Darla Magnana«, und sie war höchst empört über die Art und Weise, wie Richard Davies sich aus dem Krankenhaus verabschiedet hatte. Alle Patienten hatten das Haus in Rollstühlen zu verlassen, in Begleitung eines Mitglieds des Pflegepersonals, das sie zu ihrem Wagen bringen würde. Keinesfalls hatten sie diese Dienstleistung des Krankenhauses abzulehnen; taten sie es doch, so durften sie nicht entlassen werden. Dieser Herr war tatsächlich auf eigene Verantwortung gegangen, ohne ordnungsgemäß entlassen worden zu sein. Das Krankenhaus übernahm daher keinerlei Haftung für den Fall, dass seine Verletzungen sich verschlimmerten oder ihm weitere Probleme bereiteten. Schwester Darla Magnana hoffte, dass das klar sei. »Wenn wir jemanden über Nacht zur Beobachtung hier behalten möchten, haben wir sehr gute Gründe dafür«, erklärte sie.
Lynley bat, den Arzt sprechen zu dürfen, der Richard Davies behandelt hatte, und dieser - ein überarbeitet aussehender Stationsarzt mit Drei-Tage-Bart - unterrichtete ihn und Barbara Havers über das Ausmaß der Verletzungen, die Richard Davies davongetragen hatte: einen komplizierten Bruch der rechten Ulna, einen einfachen Bruch des rechten Malleolus. »Rechter Arm und rechter Fußknöchel«, übersetzte der Arzt für Barbara, als diese sagte: »Was für Brüche?« Weiter erwähnte er: »Abschürfungen an den Händen. Eine mögliche Gehirnerschütterung. Aber insgesamt hat der Mann großes Glück gehabt. Das hätte tödlich ausgehen können.«
Darüber dachte Lynley nach, als er und Barbara das Krankenhaus wieder verließen, nachdem man ihnen mitgeteilt hatte, dass Richard Davies sich in Begleitung einer hochschwangeren Frau davongemacht hatte. Sie setzten sich in den Bentley, riefen Leach an und hörten von ihm, dass Winston Nkata den Namen Noreen McKays durchgegeben hatte und man mittlerweile über den Computer der Zentralen Zulassungsstelle festgestellt hatte, dass sie einen neueren Toyota RAV4 fuhr. Es
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