11 - Nie sollst Du vergessen
könnte, würde ich dem Verstehen einen Schritt näher sein.
Entlocken? Dieses Wort - mit allem, was es beinhaltet - hat es Ihnen sofort angetan, nicht wahr, Dr. Rose? Ist denn Ihr Vater nicht ehrlich mit Ihnen?, fragen Sie mich.
Ich habe ihn immer für ehrlich gehalten. Aber jetzt ...
Und was werden Sie verstehen, fragen Sie weiter, wenn Sie Ihrem Vater die Wahrheit entlocken? Was wollen Sie denn verstehen?
Was mir geschehen ist.
Das ist mit Ihrem Vater verbunden?
Das möchte ich lieber nicht glauben.
Als ich ins Treibhaus kam, blickte er nicht auf. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, wie sein Körper sich dieser von ihm bevorzugten Tätigkeit, bei der er sich ständig über seine kleinen Pflanzen beugt, angepasst hat. Die Skoliose, an der er schon lange leidet, scheint sich in den letzten Jahren verschlimmert zu haben. Er ist erst zweiundsechzig, aber mir erscheint er älter durch diesen Buckel, der immer größer wird. Während ich ihn betrachtete, fragte ich mich, wie es möglich ist, dass Jill Foster, die beinahe dreißig Jahre jünger ist als er, sich sexuell zu ihm hingezogen fühlt. Es ist mir ein Rätsel, was Menschen zueinander treibt.
Ich sagte: »Warum ist in deiner Wohnung nicht ein einziges Bild von Sonia, Dad?« Ein Frontalangriff aus heiterem Himmel, dachte ich, würde am ehesten wirken. »Von mir hast du Aufnahmen aus jedem Blickwinkel und in jedem Alter, mit oder ohne Geige, von Sonia gibt es nicht ein Foto. Warum nicht?«
Da sah er doch auf, aber ich glaube, er wollte nur Zeit gewinnen. Er zog ein Taschentuch aus der Hüfttasche seiner Jeans und polierte umständlich sein Vergrößerungsglas. Dann faltete er das Taschentuch wieder zusammen, verstaute das Glas in einem Waschlederbeutel und trug diesen zu einem Regal hinten im Treibhaus, in dem er seine Gartenwerkzeuge aufbewahrt.
»Und dir auch einen schönen Nachmittag«, sagte er. »Ich hoffe, du hast Jill aufmerksamer begrüßt. Sitzt sie noch am Computer?«
»In der Küche, ja.«
»Aha. Das Drehbuch macht gute Fortschritte. Sie arbeitet an The Beautiful and Damned. Habe ich dir das erzählt? Sehr ambitiös, der BBC einen zweiten Fitzgerald anzubieten, aber sie will unbedingt beweisen, dass man dem britischen Zuschauer einen amerikanischen Roman über Amerikaner in Amerika schmackhaft machen kann. Nun, wir werden sehen. Und wie geht es deiner Amerikanerin?«
So nennt er Libby. Einen anderen Namen hat er für sie nicht. Entweder »deine Amerikanerin«, manchmal auch »deine kleine Amerikanerin« oder »deine reizende Amerikanerin«. Meine reizende Amerikanerin wird sie vor allem dann, wenn sie mal wieder ins Fettnäpfchen getreten ist, was sie mit wahrer Inbrunst tut. Libby hält nicht viel von Förmlichkeit, und mein Vater hat ihr bis heute nicht vergeben, dass sie ihn gleich beim Vornamen angesprochen hat, als ich ihn mit ihr bekannt machte. Und auch ihre spontane Reaktion auf die Nachricht von Jills Schwangerschaft hat er nicht vergessen: »Scheiße, Mann! Sie haben eine Dreißigjährige geschwängert? Hut ab, Richard!« Diese Anspielung auf den großen Altersunterschied war in den Augen meines Vaters eine unverzeihliche Frechheit.
»Es geht ihr gut«, antwortete ich.
»Kurvt sie immer noch auf ihrem Motorrad durch die Stadt?«
»Sie arbeitet immer noch für den Kurierdienst, wenn du das meinst.«
»Und wie bevorzugt sie derzeit ihren Tartini? Geschüttelt oder gequirlt?« Er nahm seine Brille ab, verschränkte die Arme und musterte mich, wie er das gern tut, mit einem Blick, als wollte er sagen: Schön ruhig bleiben, mein Junge, sonst mach ich dich fertig. Er schafft es fast immer, mich mit diesem Blick aus dem Konzept zu bringen, und er hätte es in Verbindung mit seinen Bemerkungen über Libby wahrscheinlich auch diesmal geschafft, wenn ich nicht von der plötzlichen Erinnerung an eine bisher völlig vergessene Schwester so sehr fasziniert gewesen wäre, dass alle seine Ablenkungsmanöver fehlschlagen mussten.
»Ich hatte Sonia vergessen«, sagte ich. »Nicht nur ihren Tod, sondern dass sie überhaupt existiert hatte. Ich hatte völlig vergessen, dass ich einmal eine Schwester hatte. Es ist so, als hätte jemand sie aus meinem Gedächtnis ausradiert, Dad.«
»Bist du deshalb hergekommen? Um nach Fotos zu fragen?«
»Um nach ihr zu fragen. Wieso hast du keine Bilder von ihr?«
»Du willst darin unbedingt etwas Verdächtiges sehen.«
»Du hast Fotos von mir. Du hast eine ganze Sammlung Fotos von Großvater. Von Jill.
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