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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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dieses Kind zur Welt gebracht - Sonia. Mein Vater begreift, dass er zum Hahnrei gemacht worden ist - du lieber Gott, woher habe ich denn plötzlich dieses Wort?, ich komme mir ja vor wie in einem jakobinischen Melodram -, und das Gebrüll hinter der Tür ist seine Reaktion. Großvater hört es, zählt zwei und zwei zusammen und gerät so sehr außer sich, dass mit einem Schub zu rechnen ist. Großmutter weint aus Kummer über meine Eltern und aus Angst vor dem nächsten psychotischen Schub. Sarah-Jane und der Untermieter sind völlig aus dem Häuschen vor Sensationslust. Schwester Cecilia wird geholt, um zu vermitteln, aber mein Vater erklärt, dass es ihm unmöglich sei, mit diesem Kind, das ihn fortwährend an den Verrat seiner Frau erinnern wird, unter einem Dach zu leben. Er verlangt, dass es entfernt wird, zur Adoption weggegeben oder etwas Ähnliches. Und meine Mutter, die diese Vorstellung nicht ertragen kann, liegt in ihrem Zimmer und weint.
    Und Raphael?, fragen Sie.
    Raphael ist der stolze Vater und bringt Blumen wie jeder stolze Vater.
    Wie fühlen Sie sich jetzt?, wollen Sie wissen.
    Angewidert. Aber nicht bei dem Gedanken an meine Mutter, im Schweiß und Brodem eines eklen Betts - wenn Sie mir diese Anspielung gestatten -, sondern seinetwegen. Raphaels wegen. Ja, gewiss, ich kann mir vorstellen, dass er meine Mutter geliebt und meinen Vater dafür gehasst hat, dass dieser besaß, was er selbst haben wollte. Aber dass meine Mutter seine Gefühle erwidert, dass sie auch nur daran gedacht haben soll, diesen schwitzenden Menschen mit seinem ewig sonnenverbrannten Körper in ihr Bett zu lassen, oder wo sonst sie den Akt vollzogen haben - das ist einfach undenkbar.
    Aber Kinder, sagen Sie, finden jede Vorstellung von der Sexualität ihrer Eltern entsetzlich, Gideon. Darum ist ja der Anblick des Geschlechtsakts - Ich habe keinen Geschlechtsakt gesehen, Dr. Rose, weder zwischen meiner Mutter und Raphael, noch zwischen Sarah-Jane Beckett und dem Untermieter, und auch nicht zwischen meinen Großeltern oder meinem Vater und sonst jemandem.
    Sonst jemandem?, haken Sie sofort nach. Was heißt sonst jemand, Gideon? Woher kommt diese Vorstellung?
    Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.

15. September
    Ich war heute Nachmittag bei ihm, Dr. Rose. Seit ich bei meinen »Grabungen« auf Sonia gestoßen bin und mich dann an Raphael und diese obszöne Blumenpracht und das Chaos in unserem Haus am Kensington Square erinnerte, hat es mich gedrängt, mit meinem Vater zu sprechen. Also bin ich nach South Kensington gefahren und fand ihn dort im Garten von Braemar Mansions, der Wohnanlage, in der er seit einigen Jahren lebt. Er war in dem kleinen Treibhaus, das er von den übrigen Bewohnern der Anlage requiriert hat, und beschäftigte sich, wie meist in seiner freien Zeit, mit seinen Kamelien, die er selbst gezogen und gekreuzt hat. Er war dabei, ihre Blätter mit einem Vergrößerungsglas zu inspizieren. Ich weiß nicht, ob er nach Insekten oder Knospenansätzen suchte. Er träumt davon, eine Blüte hervorzubringen, die es wert ist, auf der Blumenausstellung in Chelsea gezeigt zu werden. Die es wert ist, einen Preis zu bekommen, sollte ich sagen. Alles andere würde er als Zeitverschwendung betrachten.
    Ich sah ihn schon von der Straße aus im Treibhaus, aber da ich zur Gartenpforte keinen Schlüssel habe, musste ich durchs Haus gehen. Mein Vater bewohnt den ersten Stock, und als ich sah, dass die Tür oben offen stand, lief ich hinauf, um sie zu schließen. Aber dann sah ich drinnen Jill. Sie saß mit ihrem Laptop am Esstisch, die Beine auf einem Sitzkissen, das sie aus dem Wohnzimmer geholt hatte.
    Wir tauschten ein paar höfliche Worte - was redet man mit der schwangeren Mätresse seines Vaters? -, und sie sagte mir, was ich bereits wusste: dass mein Vater im Garten sei. »Er kümmert sich um seine anderen Kinder«, bemerkte sie und verdrehte dabei theatralisch die Augen, vermutlich als Hinweis auf ihre heftig strapazierte Langmut. Dieser Ausdruck, »seine anderen Kinder«, schien mir an diesem Tag voll tiefer Bedeutung, und ich konnte ihn mir auch nicht aus dem Kopf schlagen, als ich wieder ging.
    Auf dem Weg hinaus fiel mir etwas auf, das ich bis zu diesem Moment nie bemerkt hatte. Von Wänden, Tischen, Kommoden und Bücherregalen sprang mir plötzlich ins Auge, was ich vorher nie wahrgenommen hatte, und ich sprach es sofort an, als ich das Treibhaus betrat. Ich meinte, wenn ich meinem Vater eine ehrliche Antwort entlocken

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