11 - Nie sollst Du vergessen
wahr? Die Frage ist logisch.
Und ich müsste sie mit Ja beantworten. Ja, er hat sich früher schon so verhalten. Nur ist es mir bis vor kurzem nicht aufgefallen. Ich hatte keinen Anlass, darauf zu achten, weil die Musik der Mittelpunkt unserer Beziehung und das ständige Thema unserer Gespräche war. Üben, Proben, Arbeit im Konservatorium, Plattenaufnahmen, Auftritte, Konzerte, Konzertreisen ... Immer hat die Musik uns beschäftigt. Und da ich so stark besetzt war von meiner Musik, konnte jede Frage, die ich stellte, jedes Thema, das ich ansprach, leicht umgangen werden, indem man meine Aufmerksamkeit auf die Musik lenkte. Wie kommst du mit dem Strawinsky zurecht? Und mit dem Bach? Macht dir das Erzherzog-Trio immer noch Schwierigkeiten? Guter Gott. Das Erzherzog. Es hat mir stets Schwierigkeiten bereitet. Dieses Stück ist mein Verhängnis. Es ist mein Waterloo. Dieses Stück wollte ich in der Wigmore Hall spielen. Zum ersten Mal wollte ich es vor der Öffentlichkeit meistern, und es ist mir nicht gelungen.
Na bitte, da sehen Sie, wie leicht ich durch Gedanken an Musik von jedem anderen Thema abzulenken bin, Dr. Rose. Eben habe ich es selbst getan, da können Sie sich vorstellen, wie mühelos mein Vater mich bei unseren Gesprächen manipulieren konnte.
Aber an diesem Nachmittag war ich nicht abzulenken, und ich denke, mein Vater merkte es; er versuchte nämlich nicht, mich mit einer Geschichte von Großvaters Heldentaten während seiner Gefangenschaft zu zerstreuen oder mit einem Bericht seines tapferen Kampfs gegen ein bösartiges geistiges Leiden, das seine Klauen tief in sein Gehirn geschlagen hatte. Nein, er hatte die Tür hinter uns geschlossen, um ungestört zu sein.
»Du suchst doch nach irgendetwas Finsterem, nicht wahr?«, sagte er. »Darauf haben es die Psychiater doch immer abgesehen.«
»Ich versuche, mich zu erinnern«, entgegnete ich. »Das ist alles.«
»Und wie soll die Erinnerung an Sonia dir helfen, dich deinem Instrument wieder anzunähern? Hat deine Dr. Rose dir das erklärt?«
Nein, das haben Sie nicht getan, nicht wahr, Dr. Rose? Sie haben lediglich gesagt, dass wir mit dem anfangen werden, woran ich mich erinnern kann. Ich werde also niederschreiben, was ich im Gedächtnis habe, aber Sie erklären mir nicht, wie durch diesen Prozess die Blockade, die mich am Spielen hindert, aufgelöst werden kann.
Und in der Tat, was hat Sonia mit meinem Spiel zu tun? Sie muss noch ein Säugling gewesen sein, als sie starb. Denn an eine ältere Schwester, die sprechen und laufen konnte, die im Wohnzimmer spielte und im Garten mit mir tobte, würde ich mich doch erinnern.
Ich sagte: »Dr. Rose nennt diesen Zustand eine psychogene Amnesie.«
»Psycho-was?«
Ich erklärte es ihm, wie Sie es mir erklärt haben, und schloss mit der Bemerkung: »Da es eine körperliche Ursache für den Gedächtnisverlust nicht gibt - du weißt ja selbst, dass die Neurologen nichts gefunden haben -, muss die Ursache woanders sitzen. In der Psyche, Dad, und nicht im Verstand.«
»Das ist doch nichts als Quatsch, Gideon«, widersprach er, aber ich spürte, dass dieses Auftrumpfen nur Geste war. Er setzte sich in einen Sessel und starrte ins Leere.
»Na schön.« Ich setzte mich ebenfalls, vor das alte Rollpult meiner Großmutter, und tat etwas, woran ich bisher nie gedacht hatte, weil ich es nie für notwendig gehalten hatte. Ich nahm ihn beim Wort. »Also schön, Dad. Nehmen wir an, es ist nichts als Quatsch. Was soll ich dann tun? Wenn mein Zustand wirklich nur auf Nervenschwäche und Furcht zurückzuführen ist, dann könnte ich doch Musik machen, wenn ich allein bin, nicht wahr? Wenn keiner da ist. Wenn auch Libby aus dem Haus ist und ich nirgendwo Zuhörer fürchten muss. Dann könnte ich doch spielen, richtig? Kein Mensch würde davon erfahren, wenn ich nicht einmal ein simples Arpeggio zu Stande brächte. Ist es nicht so?«
Er sah mich an. »Hast du es denn versucht, Gideon?«
»Begreifst du denn nicht? Ich musste es gar nicht versuchen. Ich muss es doch nicht versuchen, wenn ich es schon vorher weiß.«
Er wandte sich von mir ab. Er schien sich in sich zurückzuziehen, und während das geschah, wurde mir die Stille in der Wohnung bewusst und die Stille draußen, wo nicht das kleinste Lüftchen in den Blättern der Bäume raschelte.
»Keiner«, sagte er schließlich, »weiß vor der Geburt eines Kindes, was an Schmerz auf ihn zukommt. Es scheint alles so einfach, aber so einfach ist es eben nicht.«
Ich
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