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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Kindes war.
    Natürlich fragte ich meinen Vater nach Katja Wolff. Und er sagte mir, sie sei Sonias Kinderfrau gewesen; eine junge Deutsche mit geringen Englischkenntnissen. Sie war in einem Heißluftballon, den sie und ihr Freund heimlich gebaut hatten, von Ostberlin aus in den westlichen Sektor der Stadt geflohen, eine kühne und dramatische Flucht, die ihr eine gewisse Berühmtheit eingebracht hatte.
    Sie kennen die Geschichte vielleicht, Dr. Rose. Nein, wohl eher nicht. Sie waren damals vermutlich noch keine zehn Jahre alt gewesen, und wahrscheinlich haben Sie gar nicht hier gelebt, sondern in Amerika.
    Ich jedenfalls erinnere mich nicht, obwohl ich hier in England war, den Ereignissen näher. Aber die Geschichte hat, wie mein Vater mir erzählte, einiges Aufsehen erregt, weil Katja und ihr Freund nicht über die grüne Grenze zu fliehen versuchten, wo die Gefahr, geschnappt zu werden, nicht ganz so groß gewesen wäre, sondern direkt von Ostberlin aus gestartet sind. Der Junge hat es nicht geschafft, er wurde von den Grenzsoldaten erwischt. Aber Katja schaffte es. Sie hatte ihren großen Auftritt und wurde zur Fahnenträgerin der Freiheit. Nachrichtensendungen, Schlagzeilen in den Zeitungen, Berichte und Interviews. Und sie wurde nach England eingeladen.
    Ich hörte aufmerksam zu, als mein Vater mir dies alles berichtete, und beobachtete ihn scharf. Ich suchte nach Zeichen und versteckten Bedeutungen, ich versuchte zu deuten, zu folgern, Schlüsse zu ziehen. Denn selbst jetzt noch, hier im Wohnzimmer am Chalcot Square sitzend, die Guarneri keine fünf Meter entfernt, endlich wenigstens ihrem Kasten entnommen, das muss doch ein Fortschritt sein, Dr. Rose, auch wenn ich es nicht schaffe, die Geige auf Schulterhöhe zu heben, selbst jetzt noch bedrängen mich Fragen, die zu stellen ich mich fürchte.
    Was sind das für Fragen?, wollen Sie wissen.
    Fragen wie die Folgenden, die mir ganz von selbst in den Sinn kommen: Wer hat das Foto von Sonia und Katja aufgenommen? Warum hat meine Mutter dieses eine Foto zurückgelassen? Wusste sie überhaupt von seiner Existenz? Hat sie die übrigen Fotos tatsächlich mitgenommen, oder hat sie sie vielleicht vernichtet? Und vor allem, warum hat mein Vater nie zuvor von ihnen gesprochen - von meiner Schwester Sonia, meiner Mutter und Katja Wolff?
    Vergessen hatte er sie offensichtlich nicht. Schließlich hat er, nachdem ich ihn auf Sonia angesprochen hatte, das Foto zum Vorschein gebracht, und so wie es aussah, bin ich sicher, dass er es unzählige Male in der Hand gehalten und angesehen hat. Warum also das Schweigen?
    Leidvermeidung, sagen Sie. Manchmal meiden die Menschen ein Thema, weil es zu schmerzhaft wäre, sich damit zu beschäftigen.
    Und was genau wäre für meinen Vater zu schmerzhaft? Die Beschäftigung mit Sonia oder mit ihrem Tod? Mit meiner Mutter und der Tatsache, dass sie uns verlassen hat? Oder mit den Fotografien?
    Mit Katja Wolff vielleicht?
    Wieso sollte Katja Wolff für meinen Vater ein schmerzliches Thema sein? Dafür könnte es doch nur einen Grund geben.
    Und der wäre?
    Sie möchten, dass ich es ausspreche, nicht wahr, Dr. Rose? Dass ich es niederschreibe und das Geschriebene ins Auge fasse, um zu prüfen, was daran wahr und was falsch ist. Aber was, zum Teufel, soll mir das bringen? Sie hält meine Schwester im Arm, sie drückt sie an ihre Brust, der Blick ihrer Augen ist freundlich und ihr Gesicht ist ruhig und heiter. Eine ihrer Schultern ist nackt, der Träger des Tops oder Kleides, das sie anhat, ist heruntergerutscht. Dieses Kleidungsstück ist leuchtend bunt, auffallend bunt, so viel Gelb, Orange, Grün und Blau. Und die nackte Schulter ist glatt und rund - ja, schon gut, sie wirkt wie eine Aufforderung, ich müsste blind sein, um das nicht zu sehen. Wenn also ein Mann dieses Foto von Katja Wolff macht - mein Vater vielleicht, aber ebenso gut könnte es Raphael sein oder James, der Untermieter, mein Großvater, der Gärtner, der Briefträger, jeder beliebige Mann, denn sie ist bildschön und verführerisch, sogar ich, verkorkst und verklemmt, wie ich bin, kann erkennen, was sie ist, was sie zu bieten hat und wie sie es tut -, dann mit ihrem Einverständnis, und ich kann mir sehr gut vorstellen, welcher Art dieses Einverständnis ist.
    Schreiben Sie über sie, drängen Sie mich. Schreiben Sie über Katja Wolff. Füllen Sie, wenn nötig, eine ganze Seite mit nichts als ihrem Namen, und beobachten Sie, was dabei geschieht, Gideon. Fragen Sie Ihren

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