11 - Nie sollst Du vergessen
antwortete nicht. Sprach er von mir? Von Sonia? Oder von dem anderen Kind aus einer lang zurückliegenden Ehe, dem Kind Virginia, das nie erwähnt worden war?
»Man bringt sie ins Leben«, fuhr er fort, »und weiß, dass man alles tun würde, um sie zu beschützen, Gideon. Das ist so.«
Ich nickte, aber da er mich immer noch nicht ansah, nahm er es nicht wahr, und ich sagte: »Ja.« Was ich damit bestätigte, könnte ich Ihnen nicht erklären. Aber irgendetwas musste ich sagen, und da sagte ich eben Ja.
Es schien zu genügen. Mein Vater sprach weiter. »Aber manchmal scheitert man. Man will es nicht. Man denkt nicht einmal an Scheitern. Aber es geschieht. Es kommt aus dem Nichts und trifft einen aus heiterem Himmel, ehe man überhaupt eine Chance hat, es zu verhindern - oder auch nur auf irgendeine völlig unzulängliche Art zu reagieren. Es trifft einen einfach.« Erst da sah er mir in die Augen, und sein Blick war so voller Qual, dass ich mich am liebsten zurückgezogen und ihm erspart hätte, was ihm solchen Schmerz bereitete. Ist es nicht schon schlimm genug, dass sein Leben von Kindheit an von dem Kummer überschattet war, einen Vater zu haben, dessen Leiden seine Geduld und seine Liebe fortwährend auf die härteste Probe stellte? Soll ihm jetzt auch noch ein Sohn beschieden sein, der ihn ähnlich fordern wird? Ich wollte mich zurückziehen. Ich wollte ihn schonen. Aber noch dringender wollte ich die Musik. Ohne die Musik bin ich nichts. Darum sagte ich kein Wort, sondern ließ das Schweigen wie einen hingeworfenen Handschuh zwischen uns liegen. Und als mein Vater es nicht mehr aushalten konnte, nahm er den Handschuh auf.
Er stand auf und kam auf mich zu. Einen Moment lang glaubte ich, er wolle mich berühren. Aber er öffnete nur das Rollpult meiner Großmutter und schob einen kleinen Schlüssel aus seinem Bund in das Schloss der mittleren Schublade. Das ordentliche Bündel Papiere, das er ihr entnahm, trug er mit sich zu seinem Sessel.
Ich war mir der Dramatik und Tragweite des Augenblicks bewusst. Es war, als hätten wir eine Grenze überschritten, deren Existenz wir beide vorher nicht wahrgenommen hatten. Mein Magen rebellierte. Vor meinen Augen flimmerte der funkelnde Halbmond, der stets die hämmernden Kopfschmerzen ankündigt.
Er sagte: »Dass ich keine Fotos von Sonia habe, hat einen ganz einfachen Grund. Hättest du darüber nachgedacht - und das hättest du sicher getan, wenn du im Moment nicht so durcheinander wärst -, dann wärst du zweifellos selbst darauf gekommen. Deine Mutter hat die Bilder mitgenommen, als sie uns verließ, Gideon. Sie hat alle Bilder mitgenommen. Bis auf dieses.«
Aus einem schmuddeligen Umschlag nahm er eine Fotografie und reichte sie mir. Im ersten Moment hätte ich am liebsten abgewehrt, eine so entscheidende Bedeutung hatte Sonia auf einmal für mich bekommen.
Er sah mein Zögern. »Nimm das Foto, Gideon«, sagte er. »Es ist alles, was ich noch von ihr habe.«
Da nahm ich es doch. Ich versuchte, alle Erwartungen zu unterdrücken, und fürchtete dennoch, was ich zu sehen bekommen würde. Ich wappnete mich und richtete meinen Blick auf die Fotografie.
Ein Säugling im Arm einer Frau, die ich nicht kannte. Sie saß in einem gestreiften Liegestuhl im Garten des Hauses am Kensington Square in der Sonne. Ihr Schatten fiel über Sonias Gesicht, ihr eigenes war lichtbeschienen. Sie war jung und blond, sehr blond. Mit klar gemeißelten Gesichtszügen. Sie war sehr hübsch.
»Ich - wer ist das?«, fragte ich meinen Vater.
»Das ist Katja«, antwortete er. »Katja Wolff.«
GIDEON
20. September
Viele Fragen verfolgen mich, seit mein Vater mir diese Fotografie gezeigt hat: Wenn meine Mutter damals alle Fotografien Sonias mitgenommen hat, warum dann diese eine nicht? Weil Sonias Gesicht, vom Schatten so stark verdunkelt, kaum zu erkennen war und ihr daher kein Trost sein konnte in ihrem Schmerz? - wenn tatsächlich der Schmerz sie getrieben hatte, uns zu verlassen. Oder weil Katja Wolff mit auf dem Bild war? Oder vielleicht weil sie gar nichts von dem Foto wusste? Eines nämlich kann ich der Aufnahme, die ich jetzt bei mir habe und Ihnen bei unserer nächsten Sitzung zeigen werde, nicht entnehmen: Wer sie gemacht hat.
Wieso besaß mein Vater ausgerechnet dieses Bild, dessen Mittelpunkt nicht seine Tochter ist, seine verstorbene Tochter, sondern ein strahlendes junges Mädchen, das nicht seine Frau ist, nie seine Frau war, nie seine Frau wurde und nicht die Mutter dieses
Weitere Kostenlose Bücher