11 - Nie sollst Du vergessen
wenigstens fünf Minuten für mich. Sie wissen nicht, dass ich sie vom Fenster aus beobachtet habe. Raphael kam zu Fuß aus der Chalcot Road und traf in der Mitte der Grünanlage mit meinem Vater zusammen. Eine der Bänke zwischen sich, blieben sie stehen und sprachen miteinander. Das heißt, mein Vater sprach. Raphael hörte zu. Er nickte ab und zu und strich sich, wie das seine Gewohnheit ist, mit den Fingern von links nach rechts über den Kopf, um seine dürftige Haarpracht zu glätten. Mein Vater war sehr aufgeregt. Das erkannte ich an seiner Gestik, die eine Hand in Brusthöhe zur Faust geballt, wie zum Schlag bereit. Mehr brauchte ich nicht zu interpretieren, ich wusste, warum er so erregt war.
Er war in Frieden gekommen. Kein Wort über die Musik. »Ich musste mal ein Weilchen von ihr weg«, sagte er seufzend. »Weißt du, ich glaube allmählich, Frauen in den letzten Monaten der Schwangerschaft sind auf der ganzen Welt gleich.«
»Ist Jill zu dir gezogen?«, fragte ich.
»Warum das Schicksal herausfordern?«
Womit er sagen wollte, dass sie an ihrem ursprünglichen Plan festhalten: Erst wenn das Kind da ist, wollen sie zusammenziehen, und nicht eher heiraten, bis nach den vorangegangenen beiden Ereignissen wieder Ruhe eingekehrt ist. Das ist die moderne Art der Beziehung, und Jill ist eine moderne Person. Aber manchmal würde es mich doch interessieren, wie mein Vater dieses Arrangement findet, das ihm, nach seinen beiden Ehen zu urteilen, sicherlich fremd ist. Meiner Ansicht nach ist er im Herzen ein traditionsbewusster Mensch, dem nichts wichtiger ist als die Familie und der von Familie eine ganz bestimmte Vorstellung hat. Ich bin sicher, als Jill ihm eröffnete, dass sie schwanger ist, hat er einen Kniefall vor ihr gemacht und sie gebeten, seine Frau zu werden. So hat er es jedenfalls bei seiner ersten Frau gemacht. Mein Vater weiß nicht, dass mein Großvater mir das erzählt hat. Er hatte sie im Urlaub kennen gelernt - er war damals noch beim Militär, eigentlich wollte er dort Karriere machen -, sie wurde von ihm schwanger, und er heiratete sie auf der Stelle. Dass er es bei Jill nicht genauso gehalten hat, heißt für mich, dass er sich nach Jills Wünschen richtet.
»Sie schläft jetzt, wann immer sie kann«, berichtete er. »So ist das in den letzten sechs Wochen eigentlich immer. Es wird ihnen alles so beschwerlich, und wenn das Kind von Mitternacht bis fünf Uhr morgens in Bewegung ist ...« Er machte eine resignierte Handbewegung. »Dann hast du endlich das, worauf du jahrelang gewartet hast: eine Chance, die ganze Nacht Krieg und Frieden zu lesen.«
»Lebst du jetzt bei ihr?«
»Ich büße auf ihrem Sofa.«
»Für deinen Rücken ist das aber nicht gut.«
»Daran brauchst du mich nicht zu erinnern.«
»Habt ihr euch auf einen Namen geeinigt?«
»Ich bin immer noch für Cara.«
»Und sie -« Es fiel mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, und ich musste mich zwingen, fortzufahren. »Sie hält weiter an Catherine fest?«
Unsere Blicke prallten aufeinander. Es war, als stünde sie in greifbarer Körperlichkeit zwischen uns, auf ewig das bezaubernde junge Mädchen aus dem Foto. Meine Hände waren feucht, und in meinem Magen regte sich der erste Anflug schneidender Schmerzen, als ich sagte: »Aber das würde dich an Katja erinnern, nicht wahr? Wenn ihr eurem Kind den Namen Catherine gäbt.«
Statt einer Antwort stand er auf und begann, Kaffee zu kochen. Er ließ sich Zeit dabei. Er kommentierte meine Vorliebe für bereits gemahlenen Kaffee und machte mich darauf aufmerksam, was mir dadurch an Aroma entging. Danach ließ er sich darüber aus, dass in seinem Viertel schon wieder ein Starbucks Coffee Shop gebaut worden war - diesmal in der Gloucester Road, nicht weit von Braemar Mansions - und dadurch allmählich die ganze Atmosphäre dieser Gegend zerstört werde.
Währenddessen kroch der brennende Schmerz aus meinem Magen langsam tiefer und wurde, wie stets, in meinen Eingeweiden zu loderndem Feuer. Ich hörte meinem Vater zu, während er von Starbucks auf die allgemeine Amerikanisierung der Kultur zu sprechen kam, und presste meinen Arm mit aller Kraft auf den Unterleib, um den Schmerz zu unterdrücken und dem Bedürfnis nach Erleichterung nicht nachzugeben, weil sonst mein Vater gesiegt hätte.
Ich ließ ihn weiter über Amerika schimpfen: über internationale Konzerne, die die Weltwirtschaft beherrschen, über die Größenwahnsinnigen in Hollywood, die dem Kino in aller Welt ihre
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