11 - Nie sollst Du vergessen
Vater, ob er noch andere Bilder hat: Familienfotos, Schnappschüsse aus dem Alltag, Urlaubsbilder, Aufnahmen von Festen und Familienfeiern. Sehen Sie sich die Fotos genau an. Achten Sie darauf, wen sie zeigen. Versuchen Sie, in den Gesichtern zu lesen.
Ich soll auf Katja achten, meinen Sie?
Achten Sie auf das, was da ist.
21. September
Mein Vater sagte mir, dass ich bei Sonias Geburt sechs Jahre alt war und knapp acht, als sie starb. Ich habe ihn angerufen und ganz direkt danach gefragt. Sind Sie zufrieden mit mir, Dr. Rose? Ich habe den Stier bei den Hörnern gepackt.
Als ich meinen Vater fragte, woran Sonia gestorben sei, sagte er: »Sie ist ertrunken, mein Junge.« Ich hatte den Eindruck, dass es ihm sehr schwer fiel, darüber zu sprechen. Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. Es bedrückte mich, ihn überhaupt gefragt zu haben, aber das hinderte mich nicht daran, weiterzumachen. Ich fragte ihn nach Sonias Alter bei ihrem Tod: zwei Jahre. Die offenkundige Anstrengung, die diese Worte ihn kosteten, verriet mir, dass sie lange genug lebte, um sich nicht nur einen Platz in seinem Herzen zu erobern, sondern auch eine unauslöschliche Spur in seiner Seele zu hinterlassen.
Diese Erkenntnis erklärte mir vieles: Die starke Fixierung meines Vaters auf mich, als ich noch ein Kind war; sein Bestreben, mir immer und in jeder Hinsicht das Beste zuteil werden zu lassen; seine ständige Sorge um mein Wohlbefinden und meine Sicherheit, als ich die ersten öffentlichen Auftritte hatte; sein Misstrauen gegen jedermann, der mir zu nahe kam und mir hätte schaden können. Ein Kind hatte er schon verloren - ach Gott, nein, es waren ja zwei, Virginia, sein ältestes Kind, war auch jung gestorben -, und er wollte nicht noch eines verlieren.
Jetzt endlich verstehe ich, warum er stets so nahe war, so stark engagiert, warum er sich in solchem Maß in mein Leben und meine Karriere eingemischt hat. Sehr früh schon sagte ich laut und deutlich, was ich wollte - die Geige, die Musik -, und er tat, was er konnte, um dafür zu sorgen, dass sein einziges noch lebendes Kind bekam, was es wollte. Als könnte er bewirken, dass ich ihm nicht vorzeitig genommen würde, wenn er mir die Möglichkeit gab, meinen Traum zu verwirklichen. Er arbeitete für zwei, er schickte meine Mutter zur Arbeit, er engagierte Raphael, er ließ mir Privatunterricht geben.
Nur war das alles vor Sonia, nicht wahr? Es kann also nicht die Konsequenz aus Sonias Tod gewesen sein; denn wenn sie, wie er mir sagte, zur Welt kam, als ich sechs Jahre alt war, dann waren Raphael und Sarah-Jane Beckett bereits im Haus. Und auch James, der Untermieter. Zu dieser bereits bestehenden Gruppe stieß dann Katja Wolff, Sonias Kinderfrau. Es könnte also folgendermaßen gewesen sein: Eine feste Gruppe musste sich öffnen, um einen Neuankömmling einzulassen. Einen unwillkommenen Eindringling, wenn Sie so wollen, noch dazu eine Ausländerin. Und nicht irgendeine, sondern eine Deutsche! Zwar vorübergehend öffentlich bewundert; aber eine Deutsche, Kind der ehemaligen Feinde in einem Krieg, dessen Gefangener Großvater immer noch war.
Sarah-Jane Beckett und James, der Untermieter, tuscheln über sie, nicht über meine Mutter und Raphael und die Blumen. Sie tuscheln über Katja, weil Sarah-Jane nun mal so ist, eine, die immer gern was zu tuscheln hat. In diesem Fall steckt Eifersucht dahinter, denn Katja ist gertenschlank, hübsch und verführerisch, und Sarah-Jane Beckett - mit ihrem kurzen roten Haar, das aussieht, als hätte man beim Schneiden einfach eine Salatschüssel darüber gestülpt, und einem Körper, der eher meinem ähnelt - bemerkt natürlich die Blicke, mit denen die Männer des Hauses Katja ansehen, vor allem James, der Untermieter, der Katja Englischunterricht gibt und ihre Fehler reizend findet. Gefragt, ob sie eine Tasse Tee möchte, sagt sie: »Sehr gern, herzliche Dankbarkeiten«, und die Männer lachen, völlig bezaubert. Mein Vater, Raphael, James, der Untermieter, sogar Großvater.
Daran erinnere ich mich, Dr. Rose. Ich habe es im Gedächtnis.
22. September
Aber wo war Katja Wolff all die Jahre? Mit Sonia zusammen verschüttet? Oder vielleicht wegen Sonia verschüttet?
Wegen Sonia? Da müssen Sie natürlich sofort nachhaken. Wieso wegen, Gideon?
Wegen ihres Todes. Wenn Katja Sonias Kinderfrau war und Sonia mit zwei Jahren starb, wird Katja danach vermutlich gegangen sein. Ich brauchte ja keine Kinderfrau, um mich kümmerten sich Sarah-Jane und Raphael.
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