1103 - Das Azteken-Ritual
entgegen. Sie war nicht mehr als ein feinstoffliches Ding mit menschlichen Umrissen. Suko wußte, daß er nun den Geist des alten Oberpriesters mit eigenen Augen sah. Er sprang auch auf ihn zu, weil er ihn stoppen wollte.
Es war ein vergebliches Unterfangen. Für Geister oder Seelen sind Mauern nicht existent. Das Gebilde aus Rauch oder Qualm drehte sich förmlich durch das Fenster hindurch und teilweise auch in das dicke Mauerwerk hinein.
Dann war das Gebilde verschwunden. Suko, der vor dem Fenster stand, sah nichts mehr von ihm.
Dafür hörte er von der Tür her die Stimme. »He, was ist das denn gewesen?« Pembroke stand dort und war kreidebleich.
Suko schaute ihn an. »Vergessen Sie es«, sagte er.
»Nein, das ist doch…«
»Vergessen Sie es!«
»Ja, schon gut.«
Der Inspektor ging auf das Bett zu. Dort lag Gomez. Er hatte seinen Mund wieder geschlossen, aber die aufeinandergepreßten Lippen zeigten das Lächeln des Siegers. »Du bist gekommen, Bruder«, flüsterte er. »Du hast es geahnt, aber du bist zu spät gewesen. Man kann den Oberpriester des Götzen nicht stoppen. Er hat die große Kraft, und er wird noch mächtiger werden, wenn die nächsten blutenden Herzen als Opfer dargebracht werden.«
Suko bewahrte seine Beherrschung. »Wo ist er jetzt?«
»Ich sehe ihn nicht mehr.«
»Du weißt es aber.«
»Ja, ich glaube, ich weiß es. Er wird sich auf den Weg zur Opferstelle machen.«
»Wo finde ich sie?«
Hiero Gomez richtete sich auf. Er blieb sitzen und schaute auf seine Nägel. »Auch wenn du versuchen solltest, mich zu foltern, werde ich dir nichts sagen. Jetzt ist das eingetreten, worauf ich schon in der Gerichtsverhandlung hingewiesen habe. Ich bin nicht fertig. Ich bin nicht am Ende. Im Gegenteil. Ab jetzt ist ein neuer Anfang gefunden worden. Die alten Rituale haben überlebt, und sie werden auch in der heutigen Zeit ihre Gültigkeit behalten.«
Suko nickte. »Ja, da scheinen Sie recht zu haben, Gomez. Vieles, was vergessen scheint, steht plötzlich wieder so kraftvoll da wie früher. Aber ich gehöre nicht zu den Menschen, die so schnell aufgeben. Darauf kannst du dich verlassen, Gomez.«
»Was rechnest du dir aus?«
»Ich werde bei dir bleiben.«
»Oh - hier in der Zelle?«
»Das geht nicht«, sagte Pembroke.
Suko reagierte sofort. Er ging auf den Beamten zu. »Und ob das geht. Verschwinden Sie und sagen Sie Ihrem Direktor Bescheid, daß er sich mit einem gewissen Sir James Powell von Scotland Yard in Verbindung setzen soll. Aber lassen Sie mich jetzt mit Gomez allein. Und zwar so lange, bis ich es mir anders überlegt habe.« Suko hatte in einem Winkel an der Decke das Auge der Kamera entdeckt. »Sie können ja zuschauen, wenn Sie wollen.«
Robert Pembroke nickte heftig. »Sehr gut.« Er war erleichtert. »Ich bin sowieso in diesem Räderwerk nur ein kleines Rädchen. Persönlich kann ich nichts ausrichten.« Er warf Gomez einen scheuen Blick zu.
»Was ich Ihnen gesagt habe, reicht«, meinte Suko. »Es ist am besten, wenn Sie jetzt gehen.«
Pembroke zögerte noch. Sein Blick irrte zwischen Suko und dem Gefangenen hin und her.
»Haben Sie noch Probleme?« fragte der Inspektor.
»Ja… ähm… nicht direkt. Ich meine nur, was ist, wenn er versucht, Sie zu töten? Sie unterlaufen hier alle Sicherheitsbestimmungen. Ich wundere mich sowieso darüber, daß Sie und Ihr Kollege durch den Bau gehen wie durch eine normale Wohnung. Das ist völlig unüblich, sage ich Ihnen.«
»Gehen Sie jetzt!« drängte Suko, ohne auf die Frage zu antworten.
Pembroke zog sich zurück. Er schloß die Tür. Dieses Geräusch erinnerte Suko daran, daß er mit dem Verbrecher allein war. Zwar beobachtet durch das Auge einer Kamera, aber das brachte im Ernstfall nicht viel. Es hatte auch niemand eingegriffen, als das feinstoffliche Zeug aus dem Mund des Mexikaners geströmt war. Bei einem schnellen Mord wäre jede Hilfe zu spät gekommen.
Hiero Gomez veränderte seine Haltung. Er blieb zwar auf dem Bett hocken, doch er drehte sich so, daß sein Rücken an der Wand lehnte.
»Schön, daß wir allein sind, Bruder.«
»Wenn du das so siehst.«
»Ja, immer.«
»Und wie wird es deiner Meinung nach weitergehen?«
Gomez blies in die Luft. »Der Geist des Oberpriesters hat mich verlassen. Er war lange genug in mir gefangen. Jetzt ist er endlich frei. Er hat mein gesamtes Leben von der Geburt her bis jetzt bestimmt. Ich bin Herrscher und Diener zugleich, das darfst du nicht vergessen.« Er verschränkte die
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