1103 - Das Azteken-Ritual
nicht annehmen, was eine Tatsache ist? Die Götter haben überlebt. Sie haben gesucht und auch gefunden. Nämlich mich. Ihre Kraft steckt in mir. Ich habe mich zu ihrem Diener gemacht und handle so, wie es meine Vorfahren getan haben.«
»Indem du getötet hast.«
»Ja.«
»Und du hast auch die Herzen an dich genommen.«
»Deshalb sitze ich hier.«
»Aber du hast die Toten nicht gehäutet.«
»Nein, das konnte und wollte ich nicht. Es ging alles zu schnell. Man hat mich gefangen, eingesperrt und hat gedacht, daß alles damit vorbei ist. Aber man hat sich geirrt. Man kann mich einsperren, aber man kann den Geist nicht vernichten. Das Ritual ist noch nicht beendet. Es geht weiter.«
»Es ist schon weitergegangen«, sagte Suko. »Deshalb bin ich ja wieder zu dir gekommen. Man hat ein Herz im Schnabel eines Vogels gefunden.«
»Ja, das stimmt. Es wird nicht das letzte sein, Bruder. Ich mache weiter…«
»Du?«
Gomez lachte leise. »Oder das, was in mir steckt. Kein Geist läßt sich einsperren, das muß ich dir immer wieder sagen. Die Götter sind stärker als die Menschen.«
»Willst du damit sagen, Gomez, daß in dir ein Gott steckt?«
»Seine Seele. Und die Seele des Oberpriesters. Sie haben lange gesucht und mich gefunden. Und sie haben nicht vergessen, daß es Fremde waren, die mithalfen, ihre Kultur zu zerstören. Bei mir ist alles anders, als bei den Menschen, die du kennst. Ich habe die Vergangenheit in mir, und ich kann sie leiten.«
Pembroke hatte ebenfalls zugehört. Er flüsterte hinter Sukos Rücken: »Der ist doch irre! Der ist verrückt! So etwas kann man doch nicht behaupten.«
»Er schon.«
»Glauben Sie den Scheiß?«
Suko enthielt sich einer Antwort. Er wollte mit dem Mann nicht diskutieren, weil er wußte, daß Hiero Gomez ihm keine Lügen erzählt hatte. Die Götter hatten in ihm einen perfekten Gastkörper gefunden, in dem die Seele eines toten Oberpriesters steckte. Deshalb dachte und handelte Gomez so wie dieser Götterdiener. Er suchte nach Opfern. Nach Herzen, die er den Menschen aus der Brust geschnitten hatte.
Aber er war gefaßt worden. Nur hatte niemand damit rechnen können, daß der Geist des alten Oberpriesters nicht vernichtet war und Gomez jetzt leitete.
»He, Bruder, überlegst du, ob du mir jetzt glauben sollst?«
»Nein.«
»Dann habe ich dich überzeugen können?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Immer die Zweifel. Sie passen zur Arroganz der heutigen Menschen. Ich hasse es!« Das Gesicht des Mannes verzerrte sich. »Aber das Ende ist noch nicht erreicht, das kann ich dir versprechen. Es geht weiter, auch wenn ich nicht direkt daran beteiligt bin.« Um zu demonstrieren, wie er die grausamen Rituale durchgeführt hatte, streckte Gomez seine Arme aus und machte die Finger lang.
Suko schaute auf die Nägel, die schon spitzen Messern glichen.
»Damit habe ich es getan!« flüsterte Gomez. »Ich brauchte kein bestimmtes Opfermesser, wie es damals üblich gewesen ist. Meine Hände reichten aus.«
»Wer hat die Person getötet, deren Herz wir gefunden haben? Sag es. Wer ist es gewesen? Was wollte der Vogel mit dieser Beute?«
»Auch er gehört zu uns. Er hat es an den Opferplatz bringen wollen. Ein einsamer Ort in der Natur. Dort wird eine Stätte zu Ehren der alten Götter gebaut werden, und ich weiß, daß noch viele Menschen ihre Herzen und auch ihr Blut verlieren werden.«
»Du hast ihn nicht getötet!«
»Nein, wie könnte ich? Man hat mich eingesperrt. Aber trotzdem war es ein Teil von mir. Man hat mich nicht vergessen. Wer die Ehre hat, neuer Priester zu sein, der braucht sich nicht um die von euch Menschen erstellten Regeln zu kümmern. Es wird Zeit«, sagte er urplötzlich.
»Wofür wird es Zeit?«
»Für ein weiteres Opfer.«
»Wer ist es?«
»Diesmal eine Frau!«
»Kenne ich sie?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sag mir ihren Namen!«
Hiero Gomez tat Suko den Gefallen nicht. Er senkte seine vorgestreckten Arme wieder und legte sie dicht neben seinem Körper auf die Pritsche. Er lag so still wie ein Toter. Er hielt jetzt die Augen geschlossen, aber mit seinem Gesicht geschah trotzdem etwas, denn Suko schaute zu, wie Gomez den Mund öffnete.
Das geschah nicht mit einer normalen und schnellen Bewegung. Bei ihm lief es anders ab. Er klappte die Lippen sehr langsam auseinander, so daß ein Loch entstand.
Da der Mann so perfekt lag, konnte Suko auf den offenen Mund schauen. Gomez glich jetzt einem Toten, der seinen letzten, saugenden Atemzug bereits
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