1106 - Zombie-Engel
Kugel entfernt wurde.
Ich ging zum Telefon und rief den Notarzt.
Ich würde nicht mitfahren und weiterhin hier warten. Worauf? Das konnte ich nicht einmal genau sagen. An erster Stelle stand noch immer Glenda Perkins. Auch wenn sie der Schlüssel zu dieser anderen und fremden Welt war, ich hoffte noch immer sehr stark, daß sie letztendlich diesen Horror überlebte und dann auch zurückkehrte.
Mein Blick streifte wieder über das Kleid oder das Totenhemd hinweg.
Es war leer, aber es stand noch immer auf dem Boden, wie innen von einer Figur gehalten.
Ein Unding, nicht erklärbar und doch spielte es die Hauptrolle. Es hatte Glenda geschluckt, und ich hoffte stark, daß es auch in der Lage war, sie wieder zu mir zurückzubringen…
***
Der Griff an Glendas Kehle war nicht eisern, sondern steinern. Und die Gestalt hatte blitzschnell zugepackt, bevor sich Glenda überhaupt hatte rühren können.
Es war kein Griff, der ihr nach dem Zupacken sofort die Luft abgeschnitten hätte. Nicht so brutal und radikal, aber trotzdem lebensgefährlich, denn diese steinernen Finger der lebenden Figur vor ihr drückten langsam zu. In Etappen verstärken sie die Kraft, um Glenda langsam ersticken zu lassen.
Noch war sie bei Kräften und bei Sinnen. Sie sah ihren Peiniger dicht vor sich. Es war eine Figur, die auf der oberen Kante eines Grabsteins hockte. Als nebliges Schattenwesen hatte sie die Graberde des alten Friedhofs verlassen. Und sich dann in diese steinerne Gestalt verwandelt, die trotzdem lebte. Glenda wußte, daß sie die normalen menschlichen Maßstäbe außer acht lassen mußte. Hier herrschten Gesetze, denen sie sich unterordnen mußte. Auf dem Friedhof der Engel war eben alles anders, abgesehen von dem äußeren Bild, das durchaus auch zu einem normalen Friedhof gepaßt hätte. Die knochenharte Erde, die Grabsteine als teilweise mächtige Monumente. Ein grauer Himmel, der von einem Netzwerk aus erstarrten Blitzen zerrissen worden war, die schließlich hinab auf den Friedhof gefahren waren und für den Umbruch gesorgt hatten. Auch durch die Kraft der Blitze war es gelungen, die Gräber zu öffnen und die nebelhaften Wesen zu entlassen, die nun den Friedhof auf ihre Art und Weise besetzt hielten.
Sie hatten sich sehr schnell materialisiert und waren zu diesen steinharten Körpern gelangt. Aber es waren keine Menschen, sondern eben Engel. Nackt und zugleich geschlechtslos. Manche ohne Flügel, andere wieder mit. Nur wirkten sie bei ihnen wie die Verballhornung der normalen Engel. Sie erinnerten an die Figuren griechischer Götter und hatten kaum etwas mit den Engeln gemein, wie man sie immer wieder beschrieb. Und sie waren böse, sogar grausam, denn sie wollten den Tod der Person, die ihre Ruhe gestört hatte.
Das war Glenda Perkins. Sie konnte als würdig angesehen werden.
Einer dieser Zombie-Engel hatte sich ihrer angenommen und hockte jetzt auf dem dicht vor ihr stehenden Grabstein, einen Arm ausgestreckt und die Hand um Glendas Kehle gekrallt.
Die Gestalt nahm ihr den größten Teil der Sicht auf den alten, grauen Friedhof. Sie sah einfach nur das Gesicht, das so glatt wie Stein war, aber einen sehr bösen Ausdruck zeigte, was auch auf das Licht in den beiden Augen zurückzuführen war, das sich dort wie ein kalter Rest des Mondscheins eingenistet hatte.
Glenda war sich selbst ehrlich genug gegenüber. Sie wußte, daß sie von dieser Gestalt keine Gnade zu erwarten hatte. Der Engel wollte ihren Tod. Er Verstärkte den Druck seiner Klaue, und dabei veränderte sich nichts in seinem Gesicht. Auch die Lippen blieben geschlossen. Nicht die Spur eines Grinsens zeigten sie und auch nicht den Ausdruck eines Triumphes.
Glenda hielt den Mund weit offen. Sie schnappte nach Luft. Sie war in das verdammte Kleid oder Totenhemd gestiegen. Dank seiner Magie hatte sie die Reise zu dem alten Friedhof zwischen den Welten hinter sich bringen können. Und sie hatte sich bei einem Gang über den grauen Totenacker nicht mehr wie ein Mensch gefühlt, sondern eher wie ein Geist, der unbesiegbar war.
Das alles stimmte nicht. Die Engel hatten sie eines Besseren belehrt. Sie wußte nicht, wie lange sie es noch aushalten konnte, ohne Luft zu bekommen. Eine Minute, eine halbe…?
Das Zeitgefühl spielte hier nicht mehr die Hauptrolle. Im Angesicht des nahen Todes relativierten sich die Dinge, aber Glenda wollte nicht kampflos sterben. Noch steckte ein wenig Kraft in ihr, und so versuchte sie es mit dem Mut der Verzweiflung.
Die Arme
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