1173 - Computerwelten
Staubgewands.
„Nein, Ernst Ellert, du mußt verstehen lernen, daß es Vishna um nichts anderes geht, als die Leistungsfähigkeit des Virenimperiums zu erhöhen."
Ellert schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Wäre der Ordensmann von seiner Arbeit nicht überzeugt gewesen, hätte er selbst einen Fehler im System dargestellt und seine Existenz längst eingebüßt.
Immerhin besaß dieses Virenkonglomerat ein eigenes Bewußtsein. Es war fähig, sich und seine Umwelt zu erkennen und selbständig zu agieren; ein Umstand, den sich Ellert zunutze gemacht hatte. Indem er vorgab, Stein Nachtlichts Faszination für den Urknall zu teilen, entlockte er ihm jedes Mal, wenn er in den Schacht hinabstieg, Informationen und verwickelte ihn in Gespräche. Der Ordensmann erwies sich als recht zugänglich. Es war sein fünfter Besuch auf der Nullsohle, und auch diesmal zeigte er ein gewisses Verständnis für seinen Gefangenen. Das gemeinsame Philosophieren über kosmische Vorgänge brachte die beiden ungleichen Wesen einander näher.
Dem ehemaligen Teletemporarier half dieser Kontakt über manches hinweg. Mitunter gelang es ihm sogar, den erbärmlichen Zustand seines skelettierten Körpers zu vergessen. Sein eigentliches Ziel verlor er freilich nie aus den Augen. In einem günstigen Moment mochte es ihm gelingen, den Ordensmann ganz auf seine Seite zu ziehen ...
War dies so ein Moment?
„Wahrscheinlich könnte ich vieles besser verstehen, wenn es mir vergönnt wäre, die Arbeitsweise eines Virochips aus der Nähe zu beobachten ..."
Er lauerte förmlich auf Stein Nachtlichts Reaktion. Durchschaute er sein Manöver? Ging er darauf ein?
Ernst Ellert wurde enttäuscht.
„Oh, da gibt es nicht viel zu sehen", meinte der Ordensmann arglos. „Es sind leere Welten, Computerschaltkreise eben, auf denen die Sturmreiter die Informationsströme regulieren und kontrollieren. Das ist alles."
Ellert gab noch nicht auf. Der Zeitpunkt war günstig; er spürte es.
„Für dich mögen das einfache Vorgänge sein, ich aber kann sie mir nicht vorstellen, solange ich sie nicht selbst erlebt habe. Was nützt mir die Theorie, wenn mir der innere Aufbau des Virenimperiums dennoch verschlossen bleibt?" Er hob schwerfällig einen Arm, und irgendwie gelang es ihm, seiner krächzenden Stimme einen Hauch Dramatik zu verleihen. „Was nützt mir diese phantastische Darstellung der Ur-Explosion, das Wissen um den Beginn allen Seins - wenn ich entscheidende Elemente, die daraus geboren wurden, nur mangelhaft begreife?"
Stein Nachtlicht bewegte sich unruhig. Der gezielte Hinweis auf das Objekt seiner Faszination schien ihn seltsam zu berühren.
Noch war er nicht schlüssig, wie er sich verhalten sollte. Dann jedoch schlurfte er in seiner typisch behäbigen Gangart auf den Gefangenen zu. Im ersten Reflex wollte Ellert vor ihm zurückweichen. Die geheimnisvolle, mitunter drohende Aura des Ordensmanns verstärkte sich sprunghaft und drang auf ihn ein.
„Ich helfe dir", flüsterte Stein Nachtlicht entschlossen. „Ich werde dir mentalen Zutritt zu einem Virochip verschaffen."
Ernst Ellert verschlug es die Sprache.
Wie einfach, dachte er. Wie einfach war dieses Wesen zu täuschen!
Aber er war zu aufgeregt, um Triumph zu empfinden. Die Hoffnung, die er in sein Vorhaben setzte, hielt sich ohnehin in engen Grenzen. Konnte er auf einer der Mini-Erden in geistiger Freiheit mehr ausrichten als hier, im Kerker des Zeitturms? Er sah den Schimmer einer Chance, umringt von beinahe entmutigender Skepsis.
Jetzt jedoch würde er nicht mehr zurückstecken. Er blickte in das konturlose Nichts unter der Staubkapuze. Die Lichter darin schienen noch klarer als sonst zu strahlen. Stein Nachtlicht streckte einen der dürren Arme nach ihm aus und berührte den verwesenden Körper. Ellert spürte davon nichts. Die Aura hielt ihn umschlossen und zerrte ihn in ihren Bann. Er empfand Schwindel, als ein mächtiger Sog ihn erfaßte.
Was er früher, vor seiner Gefangenschaft, problemlos selbst hätte bewerkstelligen können, dazu verhalf ihm nun der Ordensmann.
Ernst Ellert tauchte ein ins Reich der Viren. Haltlos wirbelte er durch die Nacht unter dem Staubgewand, wurde Bestandteil eines Lenkimpulses und verließ die Nullsohle. Bilder aus verschiedenen Zeiten und Räumen flossen an ihm vorbei, während er durch den Schacht nach oben raste. Er schoß den Turm hinauf, passierte den Impulsverstärker und sah Einsteins Tränen im Himmel über einer Alptraumwelt hängen. Die
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