1174 - Blut für Ludmilla
Kräfte prallten aufeinander.
Energie wandelte sich um in Elektrizität, und über das Tal hinweg huschte das erste Wetterleuchten.
Als hätte der Himmel für einen Moment sein Tor geöffnet, um es dann wieder zu schließen.
In der Ferne grollte Donner, und nicht wenige der Zuschauer empfanden es als eine Warnung. Aber an eine Umkehr dachte niemand. Sie hatten den Anfang gemacht und mussten bis zum bitteren Ende durchhalten.
Ivo gab Daniel ein Zeichen.
Beide bückten sich. Sie schauten sich die Stelle an, wo der Deckel auf dem Unterteil festklemmte.
Es war ein Sarg, wie man ihn im Orient benutzte. Eine Kiste, die sich zu den Beinen hin verengte, in der Mitte breiter war und auf der der flache Deckel lag. Wer immer die Person damals begraben hatte, es waren Nägel in das Holz getrieben worden, die den Deckel hielten.
Ivo verlangte nach einem Stemmeisen.
Er bekam es aus der zitternden Hand eines Mannes, der sofort wieder zurücktrat. In Sargnähe hielten sich sowieso nur die vier Helfer auf.
Ivo setzte das schmale Stemmeisen an. Es kratzte, als er die flache Fläche vorn in die Lücke schob.
Beim ersten Versuch klappte es noch nicht. Beim zweiten ging es schon besser, und auch Daniel hatte sich ein Werkzeug geben lassen.
Es war ein Schraubenzieher. Damit hatte er mehr Mühe als Ivo Lasic mit dem Stemmeisen. Das malträtierte Holz knirschte, als es auseinander gedrückt wurde. Erste helle Flächen erschienen, der Deckel bewegte sich nach oben. Die rostigen Nägel erschienen. Spätestens jetzt, als ein erster Spalt zwischen den beiden entstanden war, hätte der süßliche Geruch der Verwesung die Nasen der Zuschauer treffen müssen.
Nichts dergleichen passierte. Aus dem Sarg drang so gut wie kein Geruch. Nur die Erde war zu riechen, und der Staub bildete kleine Wolken, die sich auf die schweißnassen Gesichter der Zuschauer legten.
»Vorsichtig«, flüsterte Ivo scharf. »Zerbrich nicht alles.«
»Ja, ja…«
Sie arbeiteten im Schweiße ihres Angesichts. Die Umgebung hatten sie vergessen. Keiner sah die schattenhaften Gestalten der Zuschauer und ihre angespannten Gesichter.
»Ha!« Aus Daniels Mund drang ein krächzender Laut, als es plötzlich so weit war. Der Deckel verlor auch den letzten Kontakt mit dem Unterteil. Kein Nagel hielt ihn mehr fest, und Ivo, der sein Werkzeug fallen gelassen hatte, schnappte den Deckel mit beiden Händen und drückte ihn dann zur Seite.
Das Licht der Laternen und auch der entfernte Schein der Kerzen leuchtete weich in den offenen Sarg hinein. Es war kein Skelett, das es aus der Dunkelheit riss. Es war auch keine vermoderte oder von Würmern und Käfern angenagte Gestalt.
Es war eine Frau - und eine wunderschöne dazu. Jetzt hatten sie den endgültigen Beweis.
Ludmilla war nicht verwest.
***
Die folgenden Sekunden dehnten sich in die Länge. Statt Sekunden schienen Minuten zu vergehen.
Alles war anders geworden. Selbst Ivo war nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen.
Ivo und Daniel standen dem offenen Sarg am nächsten. Sie schauten hinein. Sie dachten gar nicht daran, ihren Blick abzuwenden, denk noch immer konnten sie nicht richtig fassen, was sie mit eigenen Augen zu sehen bekamen.
Ludmilla war nicht verwest. Auch die Kleidung nicht. Sie trug kein helles Totenhemd, sondern ein dunkles Gewand, das um ihren Körper drapiert war.
Schwarzes Haar, ein bleiches Gesicht. Nicht geschlossene Augen, sondern offen stehende, in denen die Pupillen aussahen wie schwarze Perlen. Darin spiegelte sich das Licht der Laternen und Kerzen wider und gab ihnen einen irgendwie lebendigen Ausdruck. Ein klares, ein schönes Gesicht, das wie mit perfekter Hand von einem Künstler gemeißelt wirkte.
Daniel hob die Schultern. Er wollte etwas sagen, doch auch ihm fehlten die Worte. Die anderen beiden Helfer standen etwas weiter entfernt. Auch sie schauten in den Sarg hinein und erkannten, dass dort keine vermoderte Leiche lag.
Das mussten sie weitergeben. Sie drehten sich um. Ihre flüsternden Stimmen erreichten die Zuhörer, während sich über ihren Köpfen das Wetterleuchten fortsetzte.
»Sie ist nicht verwest.«
»Ludmilla ist wunderschön geblieben.«
»Kommt, schaut sie euch an.«
Die Menschen trauten sich nicht so recht. Keiner wollte den Anfang machen, und sie mussten sich gegenseitig anstoßen, um sich zu überwinden.
Der Mann, der schon das Werkzeug gereicht hatte, machte den Anfang. Nach einem tiefen Stöhnlaut ging er den ersten Schritt nach vorn, verfolgt von den Blicken
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