1190 - Die stählerne Spinne
hatte er mit dem Daumen hinter den Gürtel geklemmt, nur ein paar Zentimeter vom Kolben der Kombiwaffe entfernt. Er ließ es sich nicht anmerken, aber Leo Dürk war sicher, daß er die Umgebung ständig im Auge behielt, jederzeit bereit, sich gegen einen plötzlichen Angriff zu verteidigen.
Unter den Gefangenen entstand Bewegung. Instinktiv griff Leo nach dem Kombilader. „Was könnte ich dir anhaben?" fragte Girinaar mit halblauter, zischelnder Stimme. „Selbst körperlich wäre ich dir unterlegen."
Leo Dürk schloß die Hand um den Griff der Waffe, aber er hob sie nicht auf. „Was willst du?" fragte er barsch. „Ich habe mit dir zu sprechen", sagte Girinaar. „Binnen einer Stunde wird Torquantuur mit der Eiablage beginnen. Ich will wissen, wie ihr euch darauf vorzubereiten gedenkt."
*
Der Paria hielt drei Meter von Leo Dürk entfernt. Es war klar, daß er den Waffenmeister nicht herausfordern wollte. „Was gibt's da vorzubereiten?" fragte Leo verwundert. „Sie soll ihre Eier ablegen, und damit basta."
„Ich dachte mir, daß du die Lage nicht verstehst", antwortete Girinaar. „Die Eiablage der Herrscherin geschieht einmal alle vier Ordoban-Signale. Es ist die wichtigste, die erhabenste Zeremonie, die unser Volk kennt, denn von der erfolgreichen Ablage der befruchteten Eier hängt der Weiterbestand der Fortschrittlichkeit ab. Sie vollzieht sich nach einem festgelegten Ritus. Würden die Vorschriften nicht eingehalten, dann müßte Torquantuur sterben, und das bedeutete gleichzeitig den Untergang unseres Volkes, denn eine Nächstherrscherin wurde bislang noch nicht bestimmt."
Leo Dürk fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es wurde ihm heiß unter dem Kragen. Er hatte von allem Anfang an geahnt, daß sich die Sache so leicht nicht abwickeln lassen würde.
Clifton Callamons kühner Handstreich schien alle Probleme von einer Sekunde zur ändern gelöst zu haben. Aber Leo wußte aus Erfahrung, daß die Dinge niemals so einfach waren, wie sie auf den ersten Blick den Anschein hatten. Eine gesunde Herrscherin zu entführen und sich dadurch die Freiheit zu sichern, welch ein Husarenstück wäre das gewesen! Aber eine kranke Torquantuur, von deren ordnungsgemäßer Eiablage der Weiterbestand des Volkes der Netzparias abhing -welch einen häßlichen Streich hatte ihnen der Zufall da gespielt! „Ich versichere dir", sprach er zu Girinaar, „daß es uns an Mitgefühl nicht mangelt.
Wir wissen aber, daß wir uns im Reich der Fortschrittlichen - so nennt ihr euch, nicht wahr? - nicht sicher fühlen dürfen. Unser Anliegen ist es, auf dem schnellsten und ungefährlichsten Weg zu den Unseren zurückzukehren. Wenn ihr uns dazu rechtzeitig verhelfen könnt, dann steht dem Ritus der Eiablage nichts mehr im Wege."
„Warum glaubst du mir nicht?" fragte Girinaar. „Wie meinst du das?"
„Ich habe dir zweimal versichert, daß euch von uns keine Gefahr droht. Ich habe dich beobachtet, dich und deinen Freund, wie ihr die Einr richtungen der Festung anschautet. Ich kenne die Regungen eurer Physionomie inzwischen. Ich weiß, daß ihr euch insgeheim lustig macht, wenn ihr die verfallenen, kaum mehr zu gebrauchenden Produkte unserer Technik zu Gesicht bekommt. Warum, glaubst du, wart ihr uns als Gefangene so wertvoll?"
„Weil wir euch ... helfen sollten?" fragte Leo Dürk verblüfft. „Aus keinem anderen Grund. Wir beobachteten euch, seit ihr in den Einfluß des Traktorfelds gerietet, kurz bevor Landrix euch angriff. Wir sahen, wie ihr euch zur Wehr setztet, und sahen, daß ihr eine Technik besaßt, die der unseren ebenbürtig ist.
Nur seid ihr die Meister eurer Technik, während wir die unsere nur benützen - und zerfallen lassen, weil wir nicht wissen, wie sie instand zu halten ist."
„Ihr habt uns die ganze Zeit über zugesehen?"
Mit einem seiner beiden Vorderarme machte Girinaar eine vage Geste, die die technische Ausstattung der Halle umfaßte. „Einige dieser Geräte funktionieren noch", sagte er. „Es gab Alarm, als sich ein fremdes Fahrzeug der Höhle der Gharwos näherte. Wir sahen euch ankommen. Wir wußten, was als nächstes geschehen würde. Ein solches Opfer läßt sich Arnemar Lenx nicht entgehen. Wir empfanden Bewunderung, als ihr euch gegen Landrix wehrtet. Wir sahen euch zu, wie ihr dem stählernen Faden folgtet und in die Spinne eindrangt. Inzwischen allerdings hatte unser Vorauskommando Landrix ebenfalls erreicht. Die Dekadenz hatte längst Reißaus genommen. Nur noch ein Nachzügler
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