1193 - Das Templerkind
Ich weiß es, aber ich kann es dir leider nicht beweisen. Dennoch bin ich mir sicher, dass du mir etwas verschweigst. Da ist etwas in deinem Kopf, das nicht für andere bestimmt ist. Aber keine Sorge, ich werde, es noch herausbekommen.«
Clarissa stand da wie eine verlorene Sünderin und hob nur die Schultern an.
Madame ging wieder durch den Raum. Jetzt hielt sie den Kopf vorgestreckt und schnüffelte. Für Clarissa war sie zu einem Monster geworden, das nur darauf wartete, zuschnappen zu können. Vor dem Fenster blieb sie stehen und schaute nach draußen. Der Blick durch die Scheibe allein reichte ihr nicht aus, sie wollte mehr sehen und auch wissen. Deshalb öffnete sie das Fenster.
Sie ließ die kalte Luft einströmen, drehte den Kopf, suchte die Seiten ab und blickte in die Tiefe.
Aber, auch dort war nichts zu sehen.
Schnell und heftig drehte sich die Frau wieder um. Clarissa stand drei kleine Schritte hinter ihr. Sie hatte sich gut in der Gewalt und ein Grinsen unterdrückt. Auf ihrem Gesicht malte sich ein gleichgültiger Ausdruck ab.
Die Chefin schloss das Fenster wieder. Zufrieden war sie nicht, und das erklärte sie Clarissa auch.
»Ich weiß, dass ich mich nicht geirrt habe.« Sie holte Luft. »Hier ist etwas passiert. Aber glaube nur nicht, dass du damit durchkommst, meine Kleine. Glaube das nicht.«
Clarissa stellte sich hin wie ein gehorsames Kind, die Hände vor den Körper und zusammengelegt.
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie damit gemeint haben, Madame.«
Anne Ferrant streckte ihren Finger aus. »Oh, das weißt du schon, meine Kleine. Das weißt du genau. Wir sprechen uns noch. Wenn nicht in dieser Nacht, dann Morgen. Etwas ist im Busch, das rieche und spüre ich. Lange genug habe ich euch Bälger versorgt. Da erkennt man jede Strömung. Da merkt man, wenn die lieben Kleinen anfangen zu lügen und die Erwachsenen hinters Licht führen wollen. Das sind alles die kleinen Spielchen.«
»Nicht bei mir, Madame!«
Für einen Moment verzerrte sich das glatte Gesicht der Frau und wurde zu einer Fratze. »Du kannst mich nicht an der Nase herumführen. Gerade du nicht. Ich kenne mich aus, und denke daran, dass du nicht grundlos in einem Einzelzimmer wohnst. Aber ich werde es noch herausfinden.«
Mehr sagte sie nicht. Auf dem Absatz machte sie kehrt. Einen Gruß zum Abschied schenkte sie sich, und Clarissa wollte ihn auch nicht hören.
Sie setzte sich wieder auf ihr Bett. Die letzte Stunde hatte sie stark mitgenommen. Irgendwo musste sie Madame Recht geben. Es gab da ein Problem mit ihr. Sie wohnte allein in diesem Zimmer. Das war bei den anderen nicht der Fall. Man musste für den Aufenthalt in dieser kalten Hölle hier trotz allem bezahlen. Aber wer tat das für sie? Wer gab jeden Monat das Geld?
Clarissa war alt genug, um darüber nachdenken zu können, doch ein Ergebnis hatte sie nicht erreicht. Es brachte nichts, wenn sie sich mit all den quälenden Gedanken beschäftigte oder sie zuließ.
Sie wurde davon nur gestört und durcheinander gebracht.
Jedenfalls stand für sie fest, dass es Menschen gab, die trotz allem für sie da waren und auf eine gewisse Art und Weise ihre schützenden Hände über sie hielten.
Wer tat das?
Die beiden Gestalten, die sie besucht hatten?
Daran konnte sie auch nicht glauben. Für sie waren die beiden zudem keine Menschen, sondern Wesen.
Engel?
Clarissa hatte immer an Engel geglaubt, aber so wie ihre Besucher hatte sich das Mädchen die Geschöpfe nicht vorgestellt.
Also keine Engel. Aber wer dann?
Sie wusste keine Antwort und legte sich wieder auf ihr Bett. Sie schaute gegen die Decke. Zunächst konnte sie nicht einschlafen, doch irgendwann forderte die Natur ihr Recht, und die Augen fielen ihr zu.
In dieser Nacht schlief Clarissa tief und fest.
***
Ich hatte mit dem neuen Auftrag meine Probleme. Man konnte nicht eben behaupten, dass es in meinem Leben keine Abwechslung gab, aber ein Kind aus einem Heim zu holen und an einen bestimmten Zielort zu bringen, das gehörte nicht zu meinen normalen Aufgaben.
Außerdem würde der Fall nicht normal ablaufen. Ich war zwar kein Hellseher, doch es gab immer Schwierigkeiten, wenn der Abbé mich um etwas bat.
Allerdings hatten die sich bisher nicht gezeigt. Die Überfahrt war glatt verlaufen. Kein Sturm, der das Meer aufgepeitscht hätte. Nur Schneeregen, aber der tat mir nichts.
Er ließ auch nach, als ich die französische Küste erreichte. In Le Havre mietete ich mir einen Leihwagen. Es war ein Peugeot, der
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