1193 - Das Templerkind
erst 4000 Kilometer gefahren worden war und noch neu roch. Der 404 war mit Winterreifen ausgerüstet, und an den Rechtsverkehr auf dem Festland gewöhnte ich mich rasch.
Bis Cauville war es nicht weit. Nur wenige Kilometer in Richtung Norden musste ich fahren, und das immer an der Küste entlang, manchmal auch in Sichtweite des Meeres.
Es war und blieb ein grauer Tag. Um diese Zeit herrschte nur wenig Verkehr. Die Menschen schienen alle den Atem anzuhalten, denn diese Zeit zwischen Weihnachten und Silvester gehörte zu den ruhigen Tagen des Jahres. Es sei denn, man besuchte die Geschäfte in den Großstädten, die auch dann überfüllt waren, weil viele Menschen ihre Gutscheine einlösen oder geschenktes Bargeld in Ware eintauschen wollten. Ich hatte damit nichts am Hut, musste allerdings daran denken und auch daran, wie schnell das Jahr mal wieder vorübergegangen war.
Seevögel segelten unter dem grauen Himmel. Das Meer war aufgewühlt und schleuderte mächtige Wellen gegen die Felsen an der Küste. Von einer guten Sicht konnte ich nicht sprechen, denn die kleinen Tropfen des Nieselregens sorgten immer wieder dafür, dass ich die Scheibenwischer anstellen musste.
Der Abbé hatte mir keine genaue Adresse angegeben. Ich kannte nur den Ort. Da ich auf der Karte nachgeschaut hatte, wusste ich, dass er ziemlich klein war. Dort würde mir jeder sagen können, wo ich das Kinderheim fand.
Ich hätte gern mehr über Clarissa erfahren, aber der Abbé hatte sich da zurückgehalten. Es war auch möglich, dass er mir nichts sagen wollte, aber das musste ich erst mal abwarten. Für mich war die Kleine so etwas wie ein Templerkind. Ich fragte mich auch, was sie unten im Süden tun sollte und welche Aufgabe man für das Mädchen dort hatte.
Das war dann nicht mehr mein Problem. Dafür mussten die Templer sorgen. Obwohl die Clarissa Mignon auch selbst hätten abholen können. Sie hatten es nicht getan, und sicherlich gab es dafür entsprechende Gründe.
Das graue Meer, die graue Landschaft, da konnte keine Freude aufkommen. Aber ich war auch nicht hier, um mich zu freuen.
Ich fuhr nach Cauville hinein. Eine Erbauung war das nicht. Man hätte den Ort auch als Fischerkaff bezeichnen können. Einen Hafen allerdings gab es nicht. Dafür roch die Luft würzig, und als ich kurz anhielt, um mich zu orientieren, da hörte ich auch das Rauschen des Meeres.
Graue Häuser. Kaum Farbe. Und wenn, dann war sie verblasst, denn hier kratzte und nagte der Seewind. Vor einer mit Kopfsteinen gepflasterten Gasse hielt ich an. Ich hatte bisher kein Schild entdeckt, das auf ein Heim hingewiesen hätte. Da ich keine Lust hatte, lange zu suchen, wollte ich fragen.
Die nasskalte Luft patschte gegen mein Gesicht. Ich stellte den Kragen der Lederjacke hoch und war froh, darunter einen dicken Pullover zu tragen. Auch die dicke Cordhose passte dazu. Der Wind spielte mit meinen Haaren, als ich mit langsamen Schritten auf ein schmales Haus zuging, das an der Ecke stand und mich etwas an einen kleinen Turm erinnerte, der noch nicht richtig fertig geworden war. Vor den Fenstern sah ich Holzläden, die nicht geschlossen, sondern zu den Seiten hin weggeklappt waren.
Dunkle Scheiben. Keine Lichter. Cauville schien begraben zu sein wie unter einer grauen Last.
Ich ging auf das Eckhaus zu. Eine Holztür versperrte mir den Eintritt, aber man hatte mich bereits gesehen. Eines der Fenster nahe der Tür wurde geöffnet, und ein Mann, der ein flache Mütze auf dem Kopf trug, streckte seinen Kopf nach draußen.
Er sah meinen Wagen, schaute mich an und fragte: »Fremd hier?«
Ich bejahte.
»Nicht aus Frankreich?«
»Nein.«
»England?«
»Genau.«
Er sagte etwas, das ich nicht verstand, was wohl auch gut war, denn ein Kompliment schien es nicht zu sein. Er wollte sich auch wieder in seine Höhle zurückziehen, als ich die Hand vorstreckte. »Nur eine Frage habe ich, Monsieur.«
»Was denn?«
Ich ließ mich durch seine Barschheit nicht beirren und blieb weiterhin freundlich. »Wo kann ich, bitte sehr, das Heim finden?«
Zunächst sagte er nichts. Noch schärfer oder böser schaute er mir ins Gesicht. »Was wollen Sie denn dort?«
»Jemanden besuchen.«
»Sind Sie ein Vater?«
»Nein, das nicht.«
Er überlegte. Seine Nase sah aus wie eine leicht zerdrückte Kartoffel. »Wir mögen das Heim nicht und auch nicht die Besucher. Sie verstehen?«
»Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
»Schon gut.« Er fixierte mich aus seinen kleinen Augen, als würde
Weitere Kostenlose Bücher