1193 - Das Templerkind
zurück.
Wieder einmal fühlte sich Clarissa so einsam. Sie wusste nicht, woher sie kam und wer ihre Eltern waren. Sie kannte eigentlich nur das Heim, in dem sie lebte und auch unterrichtet wurde. Allein durfte sie es nicht verlassen. Stets war die Chefin dabei, und dann wurde sie zu einer Leibwächterin.
Wann endlich kamen sie?
Clarissa war in der Lage, sie zu spüren. Bevor sie sichtbar wurden, schwebten sie unsichtbar in ihrer Nähe vorbei. Dann spürte sie etwas, aber sie wusste nie, was es war. Ein leichtes Berühren, ein Wind, der sanft an ihrem Gesicht entlangstrich und wieder verwehte. Möglicherweise noch ein Geruch. Nicht unangenehm und erfüllt von einer gewissen Süße.
Aber jetzt?
Nein, sie waren nicht zu sehen. Sie blieben in der unendlichen Dunkelheit verborgen, die für Clarissa ein Meer war. Sie hatte oft über die beiden Fremden nachgedacht, die eigentlich so fremd gar nicht waren, sondern zu denen gehörten, nach denen man sich sehnte. Viele Geschichten gab es über sie. Die einen nannten sie Engel, die anderen sagten Himmelswesen zu ihnen oder Boten.
Engel - für Clarissa waren es Engel. Aber nicht die, wie sie sich vorgestellt hatte. Nicht hell, nicht strahlend. Sie hatten auch keine Flügel oder Schwingen.
Wenn sie genau darüber nachdachte, dann waren es keine richtigen Engel, sondern unheimliche Boten aus einer finsteren Welt ohne Lachen und Gesang.
Die Chefin hätte in diese Welt hineingepasst, denn sie lachte auch nie.
Plötzlich überfiel eine große Sehnsucht das Mädchen. Seine Augen waren weit geöffnet. Es dachte an die große und auch weite Welt. In der Ferne, für sie nicht sichtbar, schäumte die Brandung gegen die Küste. Einmal hatte sie das Wasser gesehen, und es war für Clarissa ein unvergessliches Erlebnis gewesen. Die normale Welt außerhalb dieser Mauern konnte sie nur als Wunder ansehen.
Sie wartete noch immer, aber es hatte sich etwas verändert. Nicht äußerlich, denn der Himmel war der Gleiche geblieben. Nur in ihr hatte sich eine gewisse Spannung aufgebaut, die sich wenig später auch äußerlich zeigte, da ein Prickeln über ihren Rücken lief und auch blieb.
Sie kamen. Sie waren noch nicht da, aber sie waren unterwegs, davon ging sie aus.
Ihr Blick verlor alles Träumerische. Gespannt schaute sie in die Dunkelheit hinein, um dort irgendwelche Bewegungen zu sehen. Engel kamen für sie vom Himmel, aber dort hatte sich nichts verändert. Die langen Wolkenzungen blieben starr wie Eis. Weder das Licht des Mondes noch das der Sterne schimmerte durch die freien Stellen. Zwischen Wolkenzungen sah der Himmel aus wie eine glatt polierte Fläche.
Dennoch erschauerte Clarissa. Jemand musste in der Nähe sein.
Clarissa trat vom Fenster zurück. Ihr Herz klopfte schneller. Sie fror auch nicht mehr und hatte das Gefühl, dass sich die Temperatur verändert hatte.
Langsam drehte sie den Kopf und sah in das kleine Zimmer hinein, in dem sich die Dunkelheit ballte und nahe der Tür tiefe, finstere Schattenschächte bildete.
War dort etwas?
Nein, aber…
Das Kribbeln rann wieder den Rücken hinab. Diesmal stärker als noch vor ein paar Minuten.
Das Zeichen. Sie waren da. Zumindest in der Nähe. Clarissa ballte die Hände zu Fäusten. Eine fiebrige Erwartung erfasste sie. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder ängstlich sein sollte. Die Gedanken schwammen durch ihren Kopf, und sie atmete immer heftiger.
Jetzt sah sie etwas!
Genau dort, wo die Schatten am dichtesten waren, als wollten sie den Einstieg in die Unterwelt markieren. Es war noch kälter geworden. Das Eis hatte sich in ihrem Innern festgesetzt und war zu einer regelrechten Schale geworden.
Sie atmete nur noch schwach. Große Augen versuchten, die Dunkelheit der Schatten aufzuweichen, und aus ihnen wuchs etwas in die Höhe. Es schien sich an zwei Stellen vom Boden gelöst zu haben.
Sie war nicht in der Lage, den Mund zu schließen, denn die Schatten nahmen allmählich menschliche Formen an.
Zu beiden Seiten der Tür standen sie. Wie zwei Wächter, die sie nicht mehr entkommen lassen wollten. So dicht wie heute hatte sie die Gestalten noch nie bei sich gesehen, und sie hatte sie auch noch nie so intensiv gespürt.
»Hallo, Clarissa«, wisperte es ihr aus dem Dunkel entgegen. »Jetzt sind wir da…«
Ja, sie waren da. Aber Clarissa merkte auch, dass sie sich nicht mehr freuen konnte. Ein anderes Gefühl nahm von ihr Besitz, und dagegen konnte sie sich nicht wehren.
Es war die
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