12 - Im Auge des Tigers
Motorola-Handfunkgerät bei sich. Mikrofon und Lautsprecher klemmten an der Schulterklappe seines Uni-formhemdes. Hastig forderte er Verstärkung und medizinische Versorgung an.
Brian wandte seine Aufmerksamkeit dem kleinen Jungen in seinen Armen zu. In diesem Moment drehte sich für Major Brian Caruso alles um David Prentiss. Er hatte offenbar innere Verletzungen, weit mehr als die sichtbare, stark blu-tende Schusswunde im Oberkörper – es sah nicht gut aus.
»Okay, David, bleib ganz locker. Tut es sehr weh?«
»Ja«, antwortete der kleine Junge nach einem flachen A-temzug. Sein Gesicht wurde zusehends blasser.
Brian legte ihn auf die Theke der Piercing Pagoda. Dann fiel ihm ein, dass es dort vielleicht etwas geben könnte, was dem Jungen half – aber er fand nichts als eine Packung Wattetupfer. Er stopfte zwei davon in jedes der drei Löcher im Rücken des Jungen, drehte ihn dann wieder auf den Rücken und hielt ihn im Arm. Doch der Kleine blutete innerlich so stark, dass bald seine Lunge kollabieren würde. Wenn nicht rechtzeitig das Blut aus seinem Brustkorb abgesaugt wurde, war es nur eine Frage von Minuten, bis er das Bewusstsein verlor und an Atemstillstand und Herz-Kreislauf-Versagen starb. Und es gab absolut nichts, was Brian dagegen tun konnte.
»Herrgott!« Das war Michelle Peters. Sie hielt die Hand eines etwa zehnjährigen Mädchens, das offensichtlich unter Schock stand.
»Michelle, wenn Sie irgendwas von erster Hilfe verstehen, dann bewegen Sie Ihren Arsch und versorgen Sie jemanden!«, befahl Brian.
Doch sie nahm nur eine Hand voll Wattetupfer aus dem Piercingstudio und verschwand wieder.
»Hey, David, weißt du, wer ich bin?«, fragte Brian.
»Nein«, erwiderte das Kind, und trotz des Schmerzes schaute er Brian neugierig an.
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»Ich bin ein Marine. Weißt du, was das ist?«
»So eine Art Soldat?«
Brian begriff: Der Kleine starb in seinen Armen. Bitte, lieber Gott, nicht dieser unschuldige Junge!
»Nein, wir sind noch was viel Besseres als Soldaten. Ein Marine ist so ungefähr das Tollste, was man werden kann.
Vielleicht wirst du später, wenn du groß bist, auch mal ein Marine, so wie ich. Was meinst du?«
»Und böse Leute erschießen?«, fragte David Prentiss.
»Genau, Dave«, versicherte Brian.
»Cool«, hauchte David, und dann schlossen sich seine Augen.
»David? Bleib da, David. Komm schon, Dave, mach die Augen wieder auf. Wir haben uns doch noch gar nicht zu Ende unterhalten!« Er legte den Jungen behutsam wieder auf der Theke ab und tastete an der Halsschlagader nach dem Puls.
Doch da war keiner mehr.
»O Scheiße. O Scheiße, Mann!«, flüsterte Brian. Schlagartig verschwand sämtliches Adrenalin aus seiner Blutbahn.
Sein Körper wurde zum Vakuum, und seine Muskeln er-schlafften.
Die ersten Feuerwehrleute kamen hereingestürmt. Sie trugen khakifarbene Schutzjacken und schleppten Kisten –
offenbar mit medizinischer Ausrüstung. Einer der Männer übernahm das Kommando und schickte seine Leute in verschiedene Richtungen los. Zwei liefen auf Brian zu. Der erste nahm ihm den Körper des kleinen Jungen aus den Armen und warf einen kurzen Blick darauf, dann legte er ihn auf den Boden und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Brian stand wie versteinert da, das Blut des toten Kindes auf seinem Hemd.
Enzo stand in der Nähe und beobachtete die Profis – zwar hauptsächlich freiwillige Feuerwehrleute, deshalb aber nicht weniger kompetent. Gemeinsam gingen die Brüder zum nächsten Ausgang und traten in die frische Mittagsluft 358
hinaus. Das Ganze hatte nicht einmal zehn Minuten gedauert.
Wie in einer richtigen Schlacht, ging es Brian durch den Kopf. Viele Leben hatten innerhalb einer Zeitspanne, die ihm wie ein Augenblick erschien, ein vorzeitiges Ende gefunden. Seine Pistole steckte wieder in seinem fanny pack.
Das leere Magazin lag wahrscheinlich noch bei Sam Goody.
Brian kam sich vor wie Dorothy, nachdem sie in Kansas von dem Tornado erfasst wurde – nur dass er nicht in das magische Land Oz versetzt worden war. Er befand sich noch immer mitten in Virginia, und in dem Gebäude hinter ihm und seinem Bruder lagen massenhaft Tote und Verletzte.
»Wer sind Sie beide?«, sprach ein Captain der Polizei sie an.
Dominic hielt seinen FBI-Ausweis hoch. Das genügte vorerst.
»Was ist hier vorgefallen?«
»Sieht nach einem Terroranschlag aus. Vier Männer sind reingekommen und haben eine Schießerei veranstaltet.
Wir haben sie zur Strecke gebracht. Alle vier sind
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