12 - Im Auge des Tigers
sollte.
Noch immer ertönten gedämpfte Schüsse aus einer Maschinenpistole – ein unverwechselbares Geräusch. Der Lärm drang aus dem Belk-Damenbekleidungsgeschäft zu ihrer Linken. Dem Klang nach zu urteilen, konnte der Schütze nicht weit sein. Die beiden Brüder trennten sich, und jeder übernahm eine Seite des kurzen Ganges, der an Coffee Beanery und Bostonian Shoes vorbei zum nächsten Gefechtsschauplatz führte.
Im Eingangsbereich des Belk befanden sich die Parfüm-und die Kosmetikabteilung. Wie zuvor flüchteten die Menschen auch hier panisch vor den Schüssen. In der Parfüm-abteilung lagen sechs Frauen am Boden, in der Kosmetikabteilung drei weitere. Einige von ihnen waren offenbar tot.
Manche riefen um Hilfe, doch auch hier blieb den Zwillingen keine Zeit, erste Hilfe zu leisten. Sie trennten sich er-349
neut. Das Dröhnen war soeben verstummt. Sie hatten es zuvor links vor sich wahrgenommen, doch jetzt vernahmen sie nichts mehr. War der Terrorist geflüchtet? Oder war ihm nur die Munition ausgegangen?
Überall auf dem Boden lagen leere Patronenhülsen herum
– Neun-Millimeter-Messinghülsen, wie die beiden feststellten. Der Kerl hatte sich hier ordentlich ausgetobt, bemerkte Dominic. Die Spiegel an den Säulen waren bei der Schießerei fast allesamt in Scherben gegangen. Für Brians geschultes Auge sah es so aus, als wäre der Terrorist zum Haupteingang hereingekommen, hätte die ersten Kunden, die er erblickte – ausnahmslos Frauen –, niedergeschossen und sich dann nach hinten links durchgearbeitet. Wahrscheinlich war er immer dorthin vorgerückt, wo er die meisten Menschen entdeckte. Vermutlich ein einziger Täter, war Brian überzeugt.
Okay, womit haben wir es hier zu tun?, fragte sich Dominic.
Wie wird der Kerl auf uns reagieren? Wie denkt er?
Brian beschäftigte eine weitaus simplere Frage: Wo steckst du, du Arschloch? Für den Marine war der Kerl ein bewaffneter Feind, sonst nichts. Er betrachtete ihn nicht als menschliches Wesen, sondern nur als Zielperson mit einer Waffe.
Zuhayr spürte, wie seine Erregung abrupt abflaute. Er war entflammt gewesen wie niemals zuvor in seinem Leben. Er war erst mit wenigen Frauen im Bett gewesen, und mit Sicherheit hatte er heute mehr Frauen getötet, als er jemals gefickt hatte… Aber er empfand hier und jetzt im Grunde das Gleiche.
All das befriedigte ihn zutiefst. Bis eben hatte er die Schüsse der anderen gar nicht gehört. Selbst der Lärm seiner eigenen Waffe drang ihm kaum ans Ohr, so sehr war er auf seine Aufgabe fixiert. Und er hatte seine Sache gut gemacht. Ihre Gesichter, wenn sie ihn und seine Maschinenpistole bemerkten… und dann der Ausdruck, wenn sie 350
getroffen wurden – das war ein herrlicher Anblick. Allerdings hatte er nur noch zwei Magazinpaare übrig. Eins steckte in seiner Waffe, das andere in der Hosentasche.
Seltsam, dachte er, dass er jetzt auf einmal die Stille ringsum wahrnahm. In seiner unmittelbaren Umgebung war keine lebende Frau mehr zu sehen… oder wenigstens keine, die nicht verwundet war. Manche von denen, die er niedergeschossen hatte, gaben noch Laute von sich. Manche versuchten sogar davonzukriechen…
Das konnte Zuhayr nicht zulassen. Er ging auf eine von ihnen zu, eine dunkelhaarige Frau, die eine hurenhafte rote Hose trug.
Brian stieß einen Pfiff aus und gab seinem Bruder ein Zeichen. Dort drüben war er, schätzungsweise einsdreiundsiebzig, mit kurzärmeligem, khakifarbenem Hemd und einer Hose im gleichen Ton. Keine 50 Meter entfernt. Mit einem Gewehr wäre das für jeden Rekruten auf Parris Is-land ein Kinderspiel gewesen, doch mit der Beretta war es selbst für einen geübten Schützen wie Brian nicht so einfach. Dominic nickte und schlug die entsprechende Richtung ein, wobei er sich ständig nach allen Seiten umblickte.
»Pech gehabt, Frau«, sagte Zuhayr auf Englisch. »Aber keine Angst, ich schicke dich zu Allah. Du wirst mir im Paradies zu Diensten sein.« Und damit versuchte er, einen einzigen Schuss in ihren Rücken zu feuern – was jedoch mit einer Ingram nicht gerade leicht war. Stattdessen lösten sich gleich drei Schüsse, die das Opfer aus einem Meter Entfernung trafen.
Als Brian das mit ansah, rastete etwas in ihm aus. Der Marine stand auf und zielte mit beiden Händen. »Du Wichser!«, schrie er und feuerte so schnell, wie die Zielgenauigkeit es zuließ. Insgesamt 14 Schuss – beinahe den gesamten Inhalt seines Magazins – aus einer Entfernung von vielleicht 351
30 Metern.
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