12 - Im Auge des Tigers
die Gebetsvorschrif-ten hielt, scherte es niemanden, wie man aussah. Geradezu bewundernswert, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass die Mehrzahl aller Terroristen weltweit in Richtung Mekka beteten. Daran war allerdings, wie sich Jack sagte, nicht der Islam schuld. Am Abend vor seiner Geburt hatten mehrere Menschen versucht, ihn noch im Mutterleib zu töten, und diese Menschen bezeichneten sich selbst als Katholiken.
Fanatiker waren nun einmal Fanatiker, ganz gleich welcher Religion sie angehörten. Die Vorstellung, dass jemand seine Mutter hatte umbringen wollen, reichte aus, in ihm das Verlangen nach einer Beretta Kaliber .40 zu wecken. Sein Vater… nun, sein Vater konnte auf sich selbst aufpassen, 205
aber Frauen anzugreifen, das ging entschieden zu weit. Jack selbst besaß natürlich keinerlei Erinnerungen daran. Die Terroristen von der Ulster Liberation Army waren allesamt
– dank dem Staat Maryland – vor ihren Schöpfer getreten, noch ehe Jack eingeschult wurde, und seine Eltern hatten nie mit ihm über den Vorfall gesprochen. Anders seine Schwester Sally. Sie träumte noch immer davon. Er fragte sich, ob seine Eltern auch davon träumten. Wurde man solch ein Erlebnis je wirklich wieder los? Er hatte im History Channel Reportagen gesehen, in denen es hieß, Vetera-nen des Zweiten Weltkriegs sähen noch immer nachts die Bilder aus den Schlachten vor sich. Dabei lagen diese Ereignisse inzwischen mehr als 60 Jahre zurück. Solche Erinnerungen mussten wie ein Fluch auf einem lasten.
»Tony?«
»Ja, Junior?«
»Dieser Otto Weber – was ist an dem so Besonderes? Der ist ungefähr so aufregend wie eine Kugel Vanilleeis.«
»Wenn Sie ein Verbrecher wären, würden Sie sich ja auch kein großes Schild umhängen. Sie würden sich viel eher im Gras verkriechen – da, wo es am höchsten ist.«
»Bei den Schlangen«, setzte der Junior den Gedanken fort.
»Ich weiß – wir suchen nach Kleinigkeiten.«
»Wie ich schon sagte: Sie beherrschen die Grundrechenarten. Kombinieren Sie das mit Ihrem Riecher. Und – ja, ganz recht, wir suchen nach etwas, wovon wir wissen, dass es verdammt noch mal so gut wie unsichtbar ist. Klar? Darum ist das hier auch kein besonders spaßiger Job. Harmlose Kleinigkeiten sind nun mal in der Regel harmlose Kleinigkeiten. Wenn einer Kinderpornos aus dem Netz runterlädt, dann ist er deswegen noch kein Terrorist – sondern ein Perverser. Das ist in den meisten Ländern kein Kapital-verbrechen.«
»In Saudi bestimmt.«
»Wahrscheinlich, aber ich wette, es wird nicht verfolgt.«
»Ich dachte, die sind so puritanisch.«
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»Da drüben macht ein Mann nicht viel Aufhebens von seiner Libido. Wenn man allerdings was mit einem echten, lebendigen Kind anstellt, dann landet man in der Tat in Teufels Küche. In Saudi-Arabien ist es ausgesprochen ratsam, sich an die Gesetze zu halten. Da können Sie Ihren Mercedes auf der Straße parken und den Zündschlüssel stecken lassen, und wenn Sie wiederkommen, steht das Auto noch da. Das könnte man nicht mal in Salt Lake City machen.«
»Schon mal da gewesen?«, fragte Jack.
»Viermal. Die Leute sind freundlich, solange man sie an-ständig behandelt, und wenn man da drüben eine echte Freundschaft schließt, hat man einen Freund fürs Leben.
Aber es herrschen eben andere Spielregeln, und wenn man sich nicht dran hält, kann einen das verdammt teuer zu stehen kommen.«
»Otto Weber hält sich also an die Spielregeln?«
Wills nickte. »Korrekt. Er hat das ganze System völlig verinnerlicht, einschließlich der Religion. Das bringt ihm Sympathien ein. Für diese Leute steht die Religion im Mittelpunkt der Kultur. Wenn jemand konvertiert und nach den Gesetzen des Islam lebt, bestätigt das ihre Welt, und das mögen sie – wie jeder andere auch. Ich denke allerdings nicht, dass Otto einer unserer Gegenspieler ist. Solche Leute sind Soziopathen. Die gibt es überall. In manchen Kulturen werden sie früh erkannt und umgekrempelt – oder umgebracht. In anderen nicht. Hier bei uns läuft das wohl nicht so gut, wie es wünschenswert wäre, und bei den Saudis eben doch – nehme ich an. Die wirklich Fähigen kommen allerdings in jeder Kultur unbemerkt durch, und manche benutzen dazu die Religion als Tarnung. Der Islam ist kein Glaubenssystem für Psychopathen, kann aber ebenso wie das Christentum für deren Zwecke pervertiert werden.
Haben Sie im Studium mal Psychologie belegt?«
»Nein – ich wünschte, ich hätte«, gestand Ryan.
»Dann
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