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12 Stunden Angst

12 Stunden Angst

Titel: 12 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Laurel.
    Er nickte, als verstünde er genau, was sie meinte.
    Nachdem Laurel den Schock verdaut hatte, ihn hier zu sehen, stiegen zugleich Sehnsucht und Zorn in ihr auf und fochten einen erbitterten Kampf in ihrem Innern. Die Sehnsucht machte sie wütend, weil sie diesen Mann nicht haben konnte; zugleich ärgerte sie sich, weil ihr Verlangen von ihm entfacht worden war, ganz gleich, wie edelmütig seine Motive gewesen sein mochten. Danny nicht zu sehen war schlimm, doch ihn zu sehen war noch viel schlimmer. Das Allerschlimmste aber war, ihn zu sehen und ignoriert zu werden, wie es vergangenen Monat der Fall gewesen war. Keine versteckten Blicke, keine zufälligen Berührungen, kein Lächeln … nichts außer dem distanzierten Blick eines flüchtigen Bekannten.
    In jenen wahnsinnigen Augenblicken schien der Hunger in ihr plötzlich unerträglich, als würde er sie verschlingen und nichts mehr übrig lassen. Von Danny ignoriert zu werden war, als existiere sie gar nicht. Es gelang ihr einfach nicht, sich einzureden, dass er genauso litt wie sie. Doch jetzt, als sie ihn anschaute, wusste sie, dass es doch so war.
    »Wie konntest du nur herkommen?«, fragte sie leise.
    Er drehte die Handflächen nach oben. »Ich war nicht stark genug, um wegzubleiben.«
    Ehrlichkeit war immer eines seiner Prinzipien gewesen, und seine Antwort war niederschmetternd.
    »Darf ich dich in den Armen halten?«, fragte er.
    »Nein.«
    »Weil Leute in der Nähe sind? Oder weil du es nicht möchtest?«
    Sie blickte ihn an. »Es geht mir nicht gut, weil ich kein Essen bei mir behalten kann. Aber ich komme zurecht … so gerade. Bitte, lass uns über Michael reden und es hinter uns bringen. In fünfzehn Minuten wartet die nächste Mutter vor der Tür.«
    Danny seufzte tief. »Du hast recht. Wir müssen wirklich über Michael reden. Er weiß, dass irgendwas nicht stimmt. Er spürt, dass ich aufgewühlt bin. Wenn es mir nicht gut geht, geht es auch ihm nicht gut. Und ich denke, du kommst auch mit ins Spiel.«
    »Du meinst …«
    »Ja. Wenn du leidest, spürt er es. Und es ist ihm nicht egal. Du bist ihm ein ganzes Stück wichtiger als seine Mutter.«
    Laurel wollte es abstreiten, doch sie hatte es schon selbst beobachtet. »Ich möchte nicht mehr, dass du so redest. Es hat ja doch keinen Sinn.«
    Danny schaute nach rechts zur Wand, wo unbeholfene Fingermalereien an einem langen Brett hingen, das er im vergangenen Jahr dort angebracht hatte. Beim Bohren der Löcher hatte er Laurel gestanden, was ihm durch den Kopf gegangen war, als er die Bilder zum ersten Mal gesehen hatte: Dass die Kinder, von denen diese Bilder stammten, niemals Computer entwerfen, chirurgische Eingriffe durchführen oder Flugzeuge fliegen würden. Es war eine niederschmetternde Erkenntnis für ihn, doch er hatte sich damit auseinandergesetzt und war darüber hinweggekommen. Und wenngleich Laurels Schüler tatsächlich kaum jemals einen Helikopter fliegen würden, waren sie alle schon mitgeflogen: Danny hatte jedes der Kinder – mit freudiger Erlaubnis ihrer Eltern – auf spektakuläre Flüge über den Mississippi mitgenommen. Er hatte sogar einen Wettbewerb für sie veranstaltet, und der Gewinner hatte mit ihm zusammen an einem Ballonrennen teilnehmen dürfen – an einem Wochenende, als Dutzende von Heißluftballons den Himmel über dem sechzig Kilometer im Norden liegenden Natchez gefüllt hatten.
    »Du hast abgenommen«, bemerkte Laurel »Zu viel.«
    Er nickte. »Sieben Kilo in fünf Wochen.«
    Seine leicht schleppende Stimme vermittelte Kompetenz – wie Sam Shepard als Chuck Yeager in Der Stoff, aus dem die Helden sind. Es war die Stimme eines Piloten, die einem sagte, dass alles unter Kontrolle war, und die einen darüber hinaus dazu brachte, es zu glauben. Laurel brauchte ihn nicht nach dem Grund für den Gewichtsverlust zu fragen: Man musste kein Arzt sein, um ein gebrochenes Herz zu diagnostizieren.
    »Ich wünschte, ich dürfte dich in den Arm nehmen«, sagte Danny. »Brauchst du es denn gar nicht?«
    Sie schloss die Augen. Du hast ja keine Ahnung …  »Bitte lass uns bei Michael bleiben. Welche Veränderungen sind dir in seinem Verhalten aufgefallen?«
    Während Danny antwortete, langsam und ausführlich, kritzelte Laurel auf dem Post-it-Block, der vor ihr auf dem Tisch lag. Von der Stelle, an der er saß, konnte Danny den Block nicht sehen; ihm wurde die Sicht von einem Stapel Bücher versperrt. Nachdem Laurel das erste gelbe Quadrat mit Kringeln und Spiralen

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