12 - Wer die Wahrheit sucht
weitergehen.
Aber es ging weiter. Tag für Tag und Nacht für Nacht, bis die Parks der Stadt Sümpfen glichen und in den Ritzen des Straßenpflasters Schimmel zu wachsen begann. Bäume verloren im durchweichten Erdreich ihren Halt und stürzten um, und die Keller der Häuser in der Nähe des Flusses verwandelten sich in Planschbecken.
Wären nicht St. James' Geschwister gewesen - die sämtlich mit Ehepartnern, Lebensgefährten und Kindern erschienen - und seine Mutter, so wären die einzigen Gäste bei der Ausstellungseröffnung seiner Frau deren Vater und eine Hand voll enger Freunde gewesen, deren Loyalität offenbar stärker war als ihre Vorsicht, sowie fünf Fremde. Manch hoffnungsvoller Blick richtete sich auf diese Personen, bis sich herausstellte, dass drei von ihnen nur vor dem Regen in die Galerie geflüchtet waren und die beiden anderen lieber hier auf einen Tisch bei Mr. Kong's warteten als in der Schlange vor dem Restaurant.
Wie St. James bemühte sich auch der Galerist, ein Mann namens Hobart, Deborah zuliebe gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und riet ihr: »Denken Sie sich nichts, Schätzchen. Die Ausstellung läuft noch den ganzen Monat, und sie ist erste Qualität. Schauen Sie, wie viel Sie schon verkauft haben.« Woraufhin Deborah mit der für sie typischen Ehrlichkeit antwortete: »Und schauen Sie, wie viele Verwandte meines Mannes hier sind, Mr. Hobart. Wenn er mehr als drei Geschwister hätte, hätten wir alles verkauft.«
Ganz Unrecht hatte sie damit nicht. St. James' Familie war großzügig in die Bresche gesprungen, aber für Deborah war es nicht das Gleiche, ob die Verwandten ihres Mannes ihre Bilder kauften oder Fremde. »Ich habe das Gefühl, sie haben nur aus Mitleid gekauft«, hatte sie im Taxi nach Hause niedergeschlagen gesagt.
Darum wäre St. James die Gesellschaft Thomas Lynleys und seiner Frau in diesem Moment so willkommen gewesen: Weil er nach dem Desaster dieses Abends zwangsläufig die Rolle des Verteidigers von Deborahs Talent und Können würde übernehmen müssen und sich dafür nicht gerüstet fühlte. Er wusste, dass sie ihm kein Wort glauben würde, auch wenn er selbst voll hinter jedem seiner Argumente stand. Wie so viele Künstler wollte sie ihre Kunst in irgendeiner Form von außen anerkannt sehen. Er war aber kein Außenseiter, darum half sein Zuspruch nichts. Und ebenso wenig der ihres Vaters, der ihr die Schulter getätschelt und philosophisch gesagt hatte: »Tja, das Wetter kann man nicht ändern«, bevor er nach oben in sein Bett verschwunden war. Aber mit Lynley und Helen war das anders, und darum wollte St. James sie dabei haben, wenn er es endlich schaffte, das Thema Vernissage anzusprechen.
Aber es sollte nicht sein. Er sah selbst, dass Helen todmüde war und Lynley entschlossen, sie so schnell wie möglich nach Hause zu bringen. »Fahrt vorsichtig«, sagte er darum nur.
»Kopf hoch!«, entgegnete Lynley mit einem Lächeln.
St. James sah ihnen nach, als sie durch den strömenden Regen die Cheyne Row hinaufeilten. Erst als sie ihren Wagen erreicht hatten, schloss er die Haustür und wappnete sich für das Gespräch, das ihn in seinem Arbeitszimmer erwartete.
Abgesehen von der kurzen Bemerkung zu Mr. Hobart, hatte Deborah sich bis zur Taxifahrt nach Hause bewundernswert tapfer gehalten. Sie hatte mit ihren gemeinsamen Freunden geplaudert, die Familie ihres Mannes freudig begrüßt und ihren alten Mentor, Mel Doxson, von Bild zu Bild geführt, um sich über sein Lob zu freuen, aber auch die kluge Kritik, die er an ihrer Arbeit äußerte, zur Kenntnis zu nehmen. Nur jemand, der sie sehr lange kannte - wie St. James -, hätte den trüben Schatten der Niedergeschlagenheit in ihren Augen bemerkt, hätte an ihren wiederholten schnellen Blicken zur Tür erkannt, wie sehr sie törichterweise ihre Hoffnungen auf die Zustimmung irgendwelcher Fremder gesetzt hatte, deren Meinung ihr unter anderen Umständen keinen Pfifferling wert gewesen wäre.
Sie stand bei seiner Rückkehr ins Zimmer noch immer dort, wo er sie zurückgelassen hatte, als er die Lynleys zur Tür brachte: vor der Wand, an der er stets eine Auswahl ihrer Fotografien hängen hatte. Die Hände auf dem Rücken zusammengekrampft, stand sie da und starrte die Bilder an.
»Ich habe ein ganzes Jahr meines Lebens vertan«, sagte sie. »Ich hätte in dieser Zeit einer geregelten Arbeit nachgehen und ausnahmsweise mal Geld verdienen können. Ich hätte bei Hochzeiten fotografieren können oder so was.
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