12 - Wer die Wahrheit sucht
Er sah den alten Mann mit einem gewinnenden Lächeln an.
Das reichte, um ihn zu überreden. Er blieb sitzen, während Cherokee den Kaffee aufgoss und Becher, Löffel und Zucker zusammensuchte. Als er alles auf den Tisch stellte, lehnte Graham Ouseley sich zurück. »Tja, es ist eine tolle Geschichte, das kann ich Ihnen sagen. Lassen Sie mich erzählen«, sagte er und fing gleich an.
Er führte sie fünfzig Jahre zurück in die Zeit der deutschen Besatzung. Fünf Jahre brutaler Unterdrückung, wie er sagte, fünf Jahre ständiger Versuche, die verdammten Krauts auszutricksen und trotz aller Erniedrigung die eigene Würde zu bewahren. Beschlagnahmung aller Fahrzeuge bis hin zum Fahrrad, Verbot von Rundfunkgeräten, Deportation langjähriger Inselbewohner, Exekutionen angeblicher »Spione«. Arbeitslager, in denen russische und ukrainische Gefangene beim Bau von Befestigungsanlagen für die Deutschen schufteten. Tote in Arbeitslagern auf dem Kontinent, wohin diejenigen abtransportiert wurden, die sich gegen die deutsche Herrschaft auflehnten. Prüfung von Familienpapieren bis in die Zeit der Großeltern, um festzustellen, ob man jüdisches Blut in den Adern hatte, das ausgemerzt werden musste. Und Quislinge in Massen unter den ehrlichen Leuten von Guernsey: Kollaborateure, diese Teufel, die bereit waren, für die Versprechungen der Deutschen ihre Seelen zu verkaufen - und ihre Landsleute.
»Eifersucht und Gemeinheit«, erklärte Graham Ouseley. »Auch aus solchen Beweggründen haben sie uns verraten. Da wurde manche alte Rechnung beglichen, indem man den Nazis einen Namen zuraunte.«
Er war froh, ihnen sagen zu können, dass es sich bei den Verrätern meistens um Ausländer gehandelt hatte. Da war ein Holländer in St. Peter Port, der jemanden hinhängte, weil er ein Radio hatte; ein irischer Fischer aus St. Sampson, der die Landung eines britischen Schiffs in der Nähe der Petit-Port-Bucht beobachtet hatte. So was konnte man natürlich nicht entschuldigen und noch weniger verzeihen, trotzdem waren ausländische Quislinge längst nicht so schlimm wie einheimische. Aber die gab es natürlich auch. O ja, es hatte den Verrat unter Landsleuten gegeben. Zum Beispiel bei Gift.
»Gift?«, fragte Deborah verwirrt. »Was für Gift?«
Nicht Gift, sondern G-I-F-T, erklärte Graham Ouseley, ein Akronym für Guernsey Independent From Terror. Das war die Untergrundzeitung der Insel gewesen und für die Inselbewohner damals die einzige Quelle für die Wahrheit über die Aktivitäten der Alliierten. Die Nachrichten wurden aus den Sendungen der BBC gewonnen, die man jede Nacht mit verbotenen Rundfunkempfängern abhörte. In den frühen Morgenstunden wurden hinter den verdunkelten Fenstern der Kirche St. Pierre du Bois bei Kerzenlicht die Fakten des Krieges auf lose Blätter getippt und von Hand an Getreue verteilt, die so sehr nach Nachricht von der Außenwelt lechzten, dass sie bereit waren, dafür Verhöre durch die Nazis zu riskieren und alles, was solche Verhöre nach sich zogen.
»Aber da waren Quislinge dabei«, erklärte Graham Ouseley. »Wir hätten's wissen müssen. Hätten vorsichtiger sein müssen und keinem vertrauen dürfen. Aber es waren welche von den unseren!« Er schlug sich mit der Faust auf die Brust. »Verstehen Sie? Es waren welche von den unseren!«
Die vier Mitarbeiter von G.I.F.T. waren auf das Wort eines dieser Quislinge hin verhaftet worden, berichtete er. Drei von ihnen starben - zwei im Gefängnis, der dritte bei einem Fluchtversuch. Nur einer - Graham Ouseley selbst - überlebte zwei höllische Jahre der Internierung, bevor er befreit wurde, nur noch Haut und Knochen, von Läusen und Tuberkulose geplagt.
Aber diese Kollaborateure, die sie verraten hatten, vernichteten mehr als nur die Begründer von G.I.F.T. erklärte Graham Ouseley. Sie denunzierten Mitbürger, die britischen Spionen Unterschlupf gewährten und russische Gefangene versteckten, und auch solche, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie mit Kreide ein »V« für Victory auf die Fahrradsättel von Nazi-Soldaten malten, wenn diese nachts in Hotelbars tranken. Aber die Quislinge hatten nie für ihre Untaten bezahlen müssen, und das nagte an denen, die durch ihren Verrat gelitten hatten. Menschen waren umgekommen, andere waren hingerichtet worden, andere waren ins Gefängnis gekommen und einige waren nie zurückgekehrt. Mehr als fünfzig Jahre lang hatte keiner öffentlich seine Stimme erhoben, um die Namen der Schuldigen zu
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