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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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die Wand neben der Tür gestützt, stand er da, offenbar nur von dieser Wand und einer Menge Willenskraft auf den Beinen gehalten. Er hätte eine Gehhilfe gebraucht oder mindestens einen Stock, aber er hatte weder das eine noch das andere.
    »Na bitte, da sind Sie schon«, begrüßte er Deborah erfreut. »Einen Tag zu früh, aber das macht ja nichts. Im Gegenteil. Umso besser. Treten Sie ein, treten Sie ein.«
    Er erwartete offensichtlich Besuch. Deborah selbst hatte einen weit jüngeren Mann erwartet. Aber Cherokees nächste Worte schufen Klarheit. »Wir wollten zu Frank, Mr. Ouseley. Ist er hier? Wir haben seinen Wagen draußen gesehen.« Der alte Mann war also Frank Ouseleys Vater.
    »Nein, nein, bei Frank sind Sie falsch«, sagte der Alte. »Sie wollen zu mir - Graham. Frank ist auf den Petit-Hof gegangen und bringt die Pastetenform zurück. Wenn wir Glück haben, macht sie uns vor Ende der Woche noch mal eine Lauchpastete mit Hühnchen. Ich drück auf jeden Fall die Daumen.«
    »Kommt Frank bald zurück?«, erkundigte sich Deborah.
    »Oh, wir haben Zeit genug für unsere Geschäfte, bevor er zurückkommt«, versicherte Graham Ouseley. »Keine Sorge. Frank hat was gegen meinen Entschluss, wissen Sie. Aber ich hab mir geschworen, dass ich reinen Tisch mache, bevor ich sterbe. Und das werd ich auch tun, ob's dem Jungen passt oder nicht.«
    Er schlurfte auf wackligen Beinen in ein überheiztes Wohnzimmer. Dort nahm er eine Fernbedienung von einem Sessel, richtete sie auf den Bildschirm, auf dem gerade ein Küchenchef routiniert eine Banane aufschnitt, und schaltete den Apparat aus. »Gehen wir in die Küche«, sagte er. »Da gibt's Kaffee.«
    »Wir sind eigentlich hergekommen -«
    »Macht überhaupt keine Mühe«, unterbrach der alte Mann den vermeintlichen Protest Deborahs. »Gastfreundschaft ist mir wichtig.«
    Sie konnten ihm nur in die Küche folgen, einen kleinen Raum, in dem man sich kaum bewegen konnte, weil so viel herumlag: Stapel von Zeitungen, Briefen und anderen Papieren, Kochgeräte, Geschirr, Besteck, ein paar Werkzeuge für Haus und Garten.
    »Setzen Sie sich«, sagte Graham Ouseley und zwängte sich zu einer Glaskanne durch, in der noch etwa zwei Fingerbreit einer schmierig aussehenden Flüssigkeit standen. Er kippte sie ohne viel Federlesens mitsamt dem Satz in den Spülstein, nahm von einem abgerundeten Eckregal eine Dose herunter und löffelte mit zitternder Hand frischen gemahlenen Kaffee in die Kanne und auf den Boden. Er schlurfte zum Herd, ergriff den Kessel, füllte ihn mit Wasser und setzte ihn auf. Strahlend vor Stolz drehte er sich herum, nachdem er das alles geschafft hatte. »Das wär's«, verkündete er händereibend. Dann runzelte er die Stirn. »Wieso habt ihr zwei euch noch nicht gesetzt?«
    Sie waren stehen geblieben, weil sie ganz offensichtlich nicht der Besuch waren, den der alte Mann erwartet hatte. Aber da sein Sohn nicht da war - wenn auch seine Rückkehr hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen würde -, verständigten sich Cherokee und Deborah mit einem kurzen Blick, der sagte: Warum nicht? Sie würden einfach warten und inzwischen mit dem alten Mann eine Tasse Kaffee trinken.
    Dennoch hielt Deborah es für fair zu sagen: »Frank ist doch bald wieder da, nicht wahr, Mr. Ouseley?«
    Woraufhin Graham ziemlich verdrossen antwortete: »Jetzt hören Sie mal zu, machen Sie sich wegen Frank kein Kopfzerbrechen. Setzen Sie sich. Haben Sie Ihren Schreibblock dabei? Nein? Guter Gott! Ihr beide müsst ja Gedächtnisse haben wie die Elefanten.«
    Er ließ sich auf einen Stuhl nieder und lockerte seinen Schlips. Zum ersten Mal fiel Deborah auf, dass er sehr adrett in einen Tweedanzug mit Weste gekleidet war, und seine Schuhe waren frisch geputzt.
    »Frank«, teilte Graham Ouseley ihnen mit, »ist die geborene Unke. Er hat Angst, was bei dieser Geschichte zwischen mir und Ihnen rauskommt. Aber ich mach mir da keine Sorgen. Was könnten Sie mir denn noch tun, was Sie mir nicht schon zehnmal angetan haben? Ich bin es den Toten schuldig, die Lebenden zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist die Pflicht von uns allen, und ich werde meine tun, bevor ich abtrete. Ich bin zweiundneunzig. Da staunen Sie, was? Ja, das ist eine Menge Holz.«
    Deborah und Cherokee bestätigten murmelnd ihr Staunen. Auf dem Herd pfiff der Wasserkessel.
    »Lassen Sie mich.« Cherokee sprang auf, ehe Graham Ouseley ein Wort des Protests sagen konnte. »Erzählen Sie Ihre Geschichte, Mr. Ouseley. Ich mach den Kaffee.«

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